Popband dEUS : Sie bleiben die neugierigste Band der Welt
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Wunderbar artifizielle Pop-Musik: die flämische Formation dEUS Bild: Universal Music
Großen Erfolg hatten dEUS nie, auch nicht in den neunziger Jahren, in denen sie immerhin ihr Meisterwerk „Ideal Crash“ einspielten. Nun legen die Belgier eine Platte mit futuristischem Enzyklopädismus vor: kakophone Backpfeifen für alle.
In der Rockgeschichte hat es immer wieder Propheten gegeben, deren historischer Stellenwert sich kaum in der Sprache von Chartplazierungen und Verkaufszahlen fixieren, wohl aber in jener des Matthäus-Evangeliums begreifen lässt: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!
Wen? dEUS zum Beispiel! Die belgische Formation kann man unverhofft an ihren Früchten erkennen, wenn man eine Sound-Nektarine wie „Hotellongue“ vom Debüt „Worst Case Scenario“ von 1994 wiederhört und staunt, wie viel Radiohead darin vorweggenommen ist. Zwei Jahre später, auf „In a Bar, Under the Sea“, scheinen sie in der Mini-Suite „Gimme the Heat“ schon an Vorstudien zu Radioheads Epos „Paranoid Android“ zu arbeiten.
Selbst einen todsicheren Hit fahren sie vor die Wand
Der große Erfolg blieb dEUS versagt. Anfang der Neunziger stellten sie mit ihren Attacken auf die Stilschablonen der MTV-Welt nichts anderes als das Rockband gewordene Prinzip der Publikumsüberforderung dar. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Antwerpener eines jener hyperaktiven Künstlerkollektive waren, bei deren Studioarbeit selbst der Schlagzeuger mindestens eine Gesangs- und zwei Gitarrenspuren benötigt, um richtig an der Song-Collagierung mitwirken zu können. Aber es lag auch daran, dass dEUS in allen Umbesetzungen ein Ensemble herausragender Musiker blieben, das stets zu erden verstand, was ihm vorschwebte.
Das Zusammenwirken von Phantasie und Können hat dEUS oft dazu verleitet, binnen eines Stücks zynischer als Zappa, wüster als Sonic Youth, hysterischer als die Beastie Boys und böser als die Smashing Pumpkins klingen zu wollen. Selbst einen todsicheren Hit wie „Little Arithmetics“ - mit gezupften Gitarren, anmutig wie tausend Flamingos, und einem Schlagzeug so tänzerisch trippelnd, dass es allein einen Grammy verdient hätte - mussten sie unbedingt vor die Wand fahren. Was soll man auch mit einem solchen Ohrenschmaus anderes machen, als diesen à la King Crimson mit kakophonen Backpfeifen fürs Publikum zu garnieren? Die Hybris des Bandnamens war insofern Konzept und dEUS bis zum Meisterwerk „Ideal Crash“ von 1999 tatsächlich das, was sie sein wollten: eine der neugierigsten Bands der Welt.
Ein strategischer Aussichtspunkt auf das Feld der „Popular Culture“
Und heute? Vielleicht darf man den Titel ihres fünften Albums „Vantage Point“ so deuten, dass nach Jahren der Stellungskriege ein strategischer Aussichtspunkt auf das Feld jener „Popular Culture“ gefunden ist, die im letzten Song besungen wird: „If you don't come from the states / You will always be late to be in popular culture“, heißt es dort im Rückblick auf die Taktung globaler Kulturfahrpläne, gegen die man seine Autonomie verteidigen wollte: „And I was thinking, well hey / What the hell is my place / If someone else will dictate / My singular culture?“ Womöglich war also die frühe Ästhetik einfach nur eine offensive Antwort auf just diese flämische Frage.
„Vantage Point“ beantwortet die Frage nach Woher und Wohin ganz anders: mit einem futuristischen Enzyklopädismus, dessen Konstrukte dem Audio-Flaneur wie die Bauwerke einer Weltausstellung der Song-Architekturen begegnen. Klangästhetisch und dramaturgisch äußerst gelungen sind die geschichtsmetaphysische Krautrock-Sternwarte „Slow“ und das Talking-Heads-Volksparkstadion der Zivilisationskritik „The Architect“. Des Weiteren der lauschige David-Sylvian-Tempel, auf dessen Fries „Eternal Love“ steht und in dem unter der Milchstraße heut' Nacht ein Fest der Liebe gefeiert wird.
Baustelle gebliebene Versuche, die Rockgeschichte zu reparieren
Weniger überzeugend, aber dennoch imposant, sind Baustelle gebliebene Versuche, die Rockgeschichte zu reparieren: die zu breite INXS-Treppe von „When She Comes Down“ etwa oder der ovale U2-Dome „Oh Your God“, in dem man sich die Gottesfrage stellen soll. Betont lustig geht's hingegen im Nine-Inch-Nails-Darkroom zu, wo mit „Favourite Game“ als Endlosschleife eine Art „You Really Got Me“ aus dem Jahre 2018 läuft. Es hört ja eh keiner zu.
Wohin all das führen soll, erfährt man dann am Ende. Es ist wohl kein Zufall, dass „Popular Culture“ an Lennons Abgesang „Nobody Knows You“ von 1974 erinnert: „And so you gotta be strong / You've got to speak in tongues / About how you belong in popular culture“, singt Tom Barman. Der überbietenden Demontage von Idolen ist nunmehr die Maskierung mit ihnen gewichen. Wunderbar artifizielle Pop-Musik kommt dabei so oder so heraus.