1965: Jubeljahr des Pop : Süßes Gift der Erinnerung
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Bob Dylan: Highway 61 revisited Bild: Archiv
Vor fünfzig Jahren passierte in der Popmusik etwas Entscheidendes: Sie lernte, „ich“ zu sagen. Eine verspätete Plattenkritik für das Schwellenjahr 1965.
Phil Ochs, ein Folksänger, der sehr unter Bob Dylan litt, wusste nicht, was er sagen sollte: „Wie kann ein menschlicher Geist so etwas schaffen?“ Ganz einfach, man nimmt Drogen, dann wird das schon. Aber so einfach war es nicht. Die Ende August 1965 veröffentlichte Platte „Highway 61 Revisited“, Dylans sechste, hatte, auch ohne LSD, das Dylan damals reichlich genommen haben dürfte, wahrhaft bewusstseinserweiternde Wirkung. Schon der allererste Schlagzeug-Hieb war, so kam es Bruce Springsteen vor, „als ob jemand die Tür zu deinem Hirn aufgestoßen hätte“.
1965 kamen überhaupt die wichtigsten Platten heraus. Aber es handelte sich um mehr als um Plattenveröffentlichungen, die nebenbei das Album als maßgebliches Format etablierten – die Rockmusik wurde sich ihrer selbst bewusst; sie lernte, über das von Dylan perfektionierte und von anderen sofort genutzte Singer-Songwriter-Modell, „ich“ zu sagen, und begriff dieses Subjekt-Bewusstsein produktiv als Resonanzraum. Sie wurde raffiniert und weniger harmlos.
Die Aufsässigkeit, der Hohn und die Coolness, die sich in Dylan geradezu personifizierten, gaben auch andernorts Laut. Ob in diesem einen Jahr auch etwas „erfunden“ wurde, ein Stil oder ein Klang, ist eine andere Frage. Als Geburtsjahr des Rock’n’Roll gilt gemeinhin 1954; tatsächlich ist es aber 1951, als Ike Turner mit seiner Band in Memphis „Rocket 88“ einspielte und Jackie Brenston sang. Oder der Rock modernerer, härterer Prägung? Den gab es schon 1964, mit „You Really Got Me“ von den Kinks.
Fünf Jahrzehnte und ein Tritt in den Hintern
Warum also 1965? Listen wir nur das Wichtigste auf: Im März war „Bringing It All Back Home“ erschienen, auf der Dylan es gewagt hatte, elektrisch zu spielen, was er dann auch bald live tat, erstmals in Newport, wo er mit einem Mut, von dem man sich kaum noch einen Begriff macht, seine künstlerische Integrität in die Waagschale warf und riskierte und sie schließlich auf einer höheren Ebene wiedergewann. Der „Spiegel“ schrieb Anfang 1966 – da gab es „Blonde On Blonde“ noch gar nicht! – : „Die Lieder wider Hunger, Krieg und Rassenhetze lassen Amerikas Jung-Nonkonformisten mit dem bleichen, bitteren Beatnik konform gehen.“
Und Dylan stand nicht allein. Die Rolling Stones hatten schon im Februar das Lied „The Last Time“ herausgebracht, Muster für jede Form von Einpeitschermusik, im Mai „Satisfaction“ mit jenen „fünf Noten, die die Welt erschütterten“ („Newsweek“); die zugehörige Platte „Out Of Our Heads“ kam im September. Und die Beatles machten im August „Help!“ und dann, in einer anderen Umlaufbahn, Ende jenes Jahres „Rubber Soul“.
Nimmt man noch hinzu, dass die zunächst ganz an Dylan ausgerichteten Byrds, die damals als die amerikanischen Beatles gehört wurden, im selben Jahr ihre ersten beiden, den halluzinogenen Folkrock mitbegründenden Platten herausbrachten und ihre melancholische Arroganz zu einem attraktiven Identifikationsmodell machten; dass Wilson Pickett mit „In The Midnight Hour“ (offiziell von 1966, Testpressungen waren aber schon 1965 in Umlauf) den Soul in Grund und Boden rockte und Van Morrison mit seiner Gruppe Them den aufregendsten weißen Rhythm&Blues spielte, der in „Gloria“ sofort auf einen explizit sexuellen Höhepunkt kam; und lässt man den ganzen, schillernd bunten Rest jenes Jahres jetzt einfach mal weg – dann ist festzuhalten: Vor fünfzig Jahren erhielt die Popmusik ihren kräftigsten Tritt in den Hintern.
Der Blues wird zynisch
Manche meinen, davon habe sie sich nie mehr erholt. Wohl bis in alle Ewigkeit tauchen diese Platten auf den vorderen Rängen der Bestenlisten auf, wieder- und wiedergekäut, dass man’s nicht mehr hören kann. Wer zu oft den „Rolling Stone“ liest, dieses offizielle Mitteilungsblatt solcher Listen, dem wird das alles abgedroschen vorkommen. Man kann all diese Platten aber auch unabgegolten nennen, so, wie die Hochkultur-Kritik sich ja auch nach wie vor mit Büchner und Wagner beschäftigt.
Ein, für sich genommen, trivialer Erkenntnisvorgang hat in fünfzig Jahren nun auch hier dazu geführt, dass das Bild, das sich Generationen von diesen Platten gemacht haben, immer stärker ausdifferenziert wurde. Das gilt zunächst für jedes Kunstwerk. Aber hier war das Neue nicht nur für die Interpreten selbst neu, sondern schlechthin.
Und es bestand, wenn man es vereinfachend sagen darf, in Härte und Energie, in Mut, Phantasie und Eigenwilligkeit – Errungenschaften, die möglich wurden, weil die Musiker sich von den Mustern, die sie vorgefunden und weiterentwickelt hatten, wie auf geheime Verabredung hin lösten oder sie vielmehr sprengten: Dylan, indem er an die Stelle von Folktradition und politischem Bekenntnis das eigene Bewusstsein setzte und es sich gestattete, über bestimmte zeitgenössische Denk- und Verhaltensweisen mit unerhörter Schärfe zu höhnen; die Beatles, indem sie dem klassischen Rock’n’Roll und einer gewissen scheppernden Schlagerhaftigkeit entkamen und sich dabei, dank George Martin, Tonstudioeffekte als essentielle Ausdrucksweise erschlossen; die Rolling Stones, indem sie dem Blues-Sujet nun offen hedonistische oder zynische Noten abgewannen.
Nach der Reife kommt die Krise
Wie war das möglich bei Männern von Anfang zwanzig, die bis vor kurzem noch mit Schlips und Kragen herumgelaufen waren? Das Geheimnis ihrer künstlerischen Kraft wird man nicht lüften können; es genügt, sich daran zu erinnern, was sie damals bewirkte: eine nun alle Vorzüge subjektiven Sprechens nutzende Autorschaft, mit der die durch ängstlich-neidische gegenseitige Beobachtung beschleunigte musikalische Entwicklung absolut synchron ging.
Am Beispiel von „Rubber Soul“, mit dem die Beatles damals auf die Herausforderungen durch Dylan und die Rolling Stones antworteten, lässt sich das vielleicht zeigen: Die Lyrik, die vor allem bei John Lennon zwischen Verspieltheit, Aggression und Trauer changierte, verschmolz mit den instrumentellen Neuerungen – die Sitar in „Norwegian Wood“; dazu die anderen Saiteninstrumente, die nun unorthodoxer arbeiteten, was einen bisweilen schon psychedelischen Effekt erzielte – zu einer unerhört zwingenden Ausdrucksweise, in welcher die eigene künstlerische Rolle immer schon mitgedacht und häufig auch schon angezweifelt war. Im Lichte dieses nach wenigen Anläufen erreichten Reifegrades war es denn auch kein Wunder, dass die Musiker, auch Dylan und die Rolling Stones, bei denen sich Ähnliches abspielte, nur wenige Jahre später in ein Krisenstadium eintraten.
Die Welt als Affront gegen die eigene Existenz
Jeder wird, wenn es darum geht, ein wichtiges Plattenjahr zu nennen, ein anderes parat haben. In einem Segment, das sich so sehr an den persönlichen Geschmack richtet wie die Popmusik, ersetzt (oder beendet) die bloße Nennung eines Namens manchmal schon das Gespräch – deswegen wird das Interesse an den Bestenlisten wohl auch so schnell nicht abnehmen. Warum aber nicht 1967 nehmen, als „Sgt. Pepper“ von den Beatles und vieles Psychedelische erschien, oder 1966, als Dylans „Blonde On Blonde“, „Revolver“ von den Beatles und „Pet Sounds“ von den Beach Boys herauskamen?
Diese Platten landen in den Bestenlisten meistens sogar ganz oben. Aber das, was hier vertieft und verfeinert wurde, war schon 1965 zu hören. Damals wurden die Urmeter angelegt, damals hatte sich das Entscheidende etabliert: ein so selbst- wie stilsicheres Musizieren. Dass Späteres „revolutionärer“ klang, steht auf einem anderen Blatt.
Zwangsläufig birgt die Besinnung auf fünfzig Jahre alte Musik ein Gran Kulturpessimismus, im schlimmeren Fall ist sie Symptom eigenen Alterns. Überaus treffend hat dies der Kritiker Greil Marcus ausgedrückt; er schreibt in seinem ansonsten weitgehend überflüssigen Van-Morrison-Buch: „Es ist kein Geheimnis, dass, wenn man in seinen Vierzigern oder vielleicht Fünfzigern, bestimmt aber, wenn man in seinen Sechzigern oder Siebzigern ankommt, die Welt zu einem Affront gegen die gesamte eigene Existenz wird, und zwar durch die Art und Weise, wie sie sich in Werbung, Sprache, Technologie, Kleidung, Film, Musik, Geldangelegenheiten und vor allem auch Umgangsformen darstellt, das heißt, die Art, wie Menschen die Straße entlanggehen und ,Hallo‘ oder ,Auf Wiedersehen‘ sagen oder sich gar nicht erst die Mühe machen, überhaupt zu reagieren.“
„In my life, I’ve loved them all.“
Das sollte man mitbedenken, sobald man sich auf das besinnt, was man persönlich wichtig nimmt. Und doch hieße es, wenn man es nur von dieser Seite sieht, dass so etwas wie Rang etwas ganz und gar Arbiträres wäre. Vielleicht ist er das auch. Es wäre aber ein Missverständnis, wollte man, wie Simon Reynolds das in seiner einflussreichen Studie „Retromania: Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann“ (2012) tat, die Ausdrucksweisen, zu denen die Musiker 1965 fanden, als vergängliche und dann eben retrohaft immer wiederkehrende Phänomene betrachten.
Dazu waren sie zu grundlegend, und die künstlerische Energie, die sich seinerzeit entlud, war zu groß. Deswegen und wegen des dauernden Wiederholens seiner Retro-These wird Reynolds, der Tradition für eine Krankheit zu halten scheint, auch überschätzt.
Wohin führt es aber, wenn man immer wieder auf die guten, alten Sachen zurückkommt? Greil Marcus fährt an der zitierten Stelle fort: „Man mag an einen Punkt gelangen, wie der Historiker Robert Cantwell so elegant formuliert hat, an dem ,das eigene Leben in die Vergangenheit‘ verschwindet – dein Leben, oder auch dein ganzes beschissenes Bezugssystem.“ Sehenden Auges lassen wir also unser Leben und unser Bezugssystem immer tiefer in die Vergangenheit entschwinden. Da gehören sie schließlich auch hin, wie alles irgendwann.
Das wird auch Simon Reynolds noch merken mit seinem Retro-Gerede. Noch brauchen wir keinen Möchtegern-Nietzsche, der uns in einer unzeitgemäßen Betrachtung aus dem Wiederkäuen einen Strick dreht. Was können wir dafür, dass wir nicht zu diesen beneidenswerten Kühen gehören: „kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig“? Wie sang John Lennon in einem der besten Beatles-Lieder: „In my life, I’ve loved them all.“ Das süße Gift der Erinnerung macht doch das Leben überhaupt erst aus!