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Soul-Sängerin Celeste : Aretha und Etta im Geiste

Die britische Sängerin Celeste schafft es, den Massengeschmack mit einem Stil zu treffen, der auch Kritikern gefällt. Bild: Elizaveta Porodina

Die junge britische Soulsängerin Celeste schafft es, mit wenig Anbiederung und einer Stimme kommerziell erfolgreich zu sein, wie man sie aus London seit Sade Adu nicht mehr gehört hat. Und dabei gab es zuletzt viele tolle Sängerinnen.

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          Kaum kommt eine Soulsängerin aus London, denken wir an all die tollen Frauen der vergangenen Jahre, die so schön über Entzugskliniken, über Gnade oder „jemanden wie dich“ gesungen haben. Kaum singt eine Soulsängerin davon, dass sie keine ideale Frau sei und einige sagen, es liege daran, dass sie zu groß ist, vergessen wir, dass ein lyrisches Ich zwischen Sängerin und uns liegt – gerade wenn sie wirklich größer als 1,80 Meter ist.

          Philipp Krohn
          Redakteur in der Wirtschaft, zuständig für „Menschen und Wirtschaft“.

          Deshalb nähern wir uns der phantastischen britischen Soulsängerin Celeste Epiphany Waite anders: Sie hat die schönste Stimme einer Soul-Pop-Sängerin aus London seit Sade Adu. Die hatte in den achtziger Jahren mit Texten über glatte Playboys, Migration und Sklaverei ein Gegengewicht zum Elektropop ihrer Dekade gelegt.

          Celestes Songs sind innerlicher und laden somit zu biographischen Bezügen ein. Sie kam 1994 in Kalifornien als Tochter einer weißen Engländerin und eines Jamaikaners zur Welt. Die Eltern, zuvor nicht einmal richtig ein Paar, trennten sich bald, und Celeste kehrte mit ihrer Mutter nach England zurück, wo sie zu viert mit ihren Großeltern in einem Haus wohnten. Ihren Vater erlebte sie nur in einer intensiven Phase zwischen zehn und sechzehn, als er an Lungenkrebs starb.

          Sie hörte sich an Aretha Franklin und Etta James fest

          Auf Empfehlung ihres Großvaters hörte sie sich an Aretha Franklin, Etta James, Ella Fitzgerald und Billie Holiday fest und schulte ihre Stimme daran. Statt in Richtung Neuzeit grub sie sich rückwärts durch Youtube hindurch bis zu Muddy Waters und Howlin’ Wolf – hervorragende Voraussetzungen dafür, die glatte Popwelt zu ignorieren.

          Von der Großmutter schaute sie sich ihr Sechziger-Jahre-Vintage-Outfit ab. Bei ersten Live-Auftritten sang sie für ihr Alter ungewöhnliche Songs wie die Gitarrenballade „Wild Wood“ von Paul Weller oder das Sänger-Showcase „Worried About You“ aus der mittleren Phase der Rolling Stones.

          Dank solcher Erfahrungen gelingt es ihrem Album „Not Your Muse“, zwischen dem Cinemascope-Breitbild-Pop von „Love Is Back“ und „Stop This Flame“ (das ein wunderbar modern interpretiertes Intro aus „Sinnerman“ von Nina Simone enthält, einem weiteren Idol aus Celestes Jugend) und den stillen Nummern wie „Beloved“ oder „Strange“ zu vermitteln. Die Arrangements sind zwischen Arpeggio-Gitarrenakkorden, gedämpften E-Pianos, Bläser- und Celli-Beigaben, Schlagzeugbesen und fettem Orchester so stilvoll, dass sogar die auf Chartsplazierung abzielenden Songs große Freude machen.

          Jeder Zucker, jede Sauce ist raus, man spürt ihre Fragilität

          Über „Strange“, das mit seiner ruhigen Gangart prototypisch für die Platte ist, sagte sie der „New York Times“, sie habe es „so unberührt und jungfräulich, wie es nur möglich sein könnte“, aufnehmen wollen. Jeder Zucker, jede Sauce ist raus – die Fragilität der Künstlerin wird spürbar. Da kann sie sich auch das Doris-Day-poppige „A Little Love“ (mit fürchterlich kitschigem Video) erlauben. Unterstützung als Songwriterin hatte Celeste vom britischen Produzenten Jamie Hartman, der Mitte der nuller Jahre die mäßig erfolgreiche Band Ben’s Brother geführt hat und nun weiß, wo zwischen den genannten erfolgreichen Soul-Pop-Sängerinnen er seinen Schützling positionieren muss.

          Kommerziell ist das Vorhaben mit Verzögerung aufgegangen. Von den ersten Demos bis zu hochgelobten Bühnenauftritten war der Weg nicht weit. Wer Celeste im Vorprogramm des Singer-Songwriters Michael Kiwanuka sah und hörte, erlebte eine selbstbewusste Performerin, die allein mit ihrer Stimme einen Raum füllen kann. Im vergangenen Sommer war die Klavierballade „Little Runaway“ als Durchbruch-Single angelegt.

          Doch die Pandemie bremste die Vermarktung aus, die zuvor so eindrucksvoll mit der Veröffentlichung von „Stop This Flame“ (beim Fernsehsender Sky in Großbritannien als Pausensong bei Fußballübertragungen ausgewählt), der Auszeichnung BBC Sounds 2020 und ihrer Performance mit „Strange“ bei den Brit Awards begonnen hatte.

          Celeste stellt sich auf volle Säle nach der Pandemie ein

          Doch auch ohne dass das Kalkül vollständig aufging, gab es damit genug Rückenwind für das Album, das mit der vollen Marketingwucht des Majorlabels Universal jüngst in den Handel kam. „Bei den letzten Auftritten, die ich hatte“, sagte sie dem britischen „Guardian“, „kamen nur einige hundert Leute. Aber ich kann schon fühlen, dass da jetzt ein bisschen mehr sein werden.“

          Wenn irgendwann einmal die Clubs hoffentlich finanziell überlebt haben werden und wieder aufmachen, wird Celeste nicht allein ihr Debütalbum im Gepäck haben. Seitdem sie im Jahr 2016 erstmals Songs aufgenommen hat, sammelte sie eine Reihe Singles und EPs, die oft etwas rhythmischer sind und ihre private Vorliebe für aktuellen amerikanischen Hiphop von Kendrick Lamar und Tyler, the Creator heraushören lassen.

          Auch diese Musiker stehen für einen Ansatz, klug und mit Respekt vor dem Erbe vor allem afroamerikanischer Musik eigene musikalische Akzente zu setzen und dabei erfolgreich zu sein, ohne sich der Musikindustrie und ihrer manchmal mechanistischen Wahrnehmung des Publikumsgeschmacks anzubiedern. „Not Your Muse“ ist eines dieser wundervollen und seltenen Alben, die den Mainstream erfolgreich bedienen, aber dabei die Vision der Künstlerin kein Deut aufgeben.

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