Coldplay-Album „Ghost Stories“ : Der Verrat
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Natürlich soll man solche Texte wie diesen weder lesen noch schreiben. Schaum vor dem Mund des Rezensenten. Das ist alles viel zu drastisch. Außerdem lassen sich gegen den Inhalt zwei schwere Einwände vorbringen. Erstens: Die Popkultur ist seit Anbeginn von bretthaftiger Flachheit. „I’ve lost her now for sure, I won’t see her no more, It’s gonna be a drag, misery!“, das haben die Beatles gesungen, und wenn man es hörte, konnte man auch damals nur antworten: Big Deal. Zweitens: Die Coldplay-Platte hat ihre Momente.
Sattheit an der eigenen Kunst
Fangen wir mit zweitens an. Die Single, die vorab aus dem Album veröffentlicht wurde, heißt „Midnight“ und ist wirklich sehr gut. Es war nicht schwer, den Kopf hinter der Sache herauszuhören, den englischen Produzenten Jon Hopkins, der, wenn man ihn alleine lässt, sehr schöne Platten veröffentlicht, aber auch als Popproduzent tolle Sachen aus den ihm anvertrauten Bands herausholt. Hopkins hat schon früher mit Coldplay zusammengearbeitet, aber bei dieser Single dachte man, die Band würde nun endlich machen, was man als langsam im eigenen Fahrwasser ersaufende Band normalerweise tut, nämlich sich in die Hände eines anderen zu geben und zu schauen, was der dann mit den Ideen anstellt.
„Midnight“ klingt wie ein Coldplay-Remix, und alles, was an der Band gut war, ihr Sinn für nächtliche Fahrradfahrmomente, für Dahingleiten, unverstellte Süße und Euphorie, ist in dem Song bis aufs Äußerste herausgekitzelt. Ein Wunder, dachte man. Diese Band, die spätestens auf dem dritten Album in einem historischen Versehen skandalösen Ausmaßes in den Stadionrock ausgeglitten war, hatte es irgendwie geschafft, wieder in die Spur zu finden, Hopkins sei Dank, und sich selbst irgendwie wieder an etwas zeitgemäß Klingendes, Subtiles anzudocken. „Midnight“ hebt nie wirklich ab, vielmehr hat die Nummer etwas vom Glitzern auf dem Wasser, gegen Ende blendet es fast, aber dann verschwindet es wieder. Sehr schön.
Leider war es das aber auch schon. Was Chris Martin als Songschreiber früher immer konnte, den melancholisch angehauchten Superhaken, die kleine Melodie, die nicht mehr aus dem Kopf verschwindet, egal, wie blöd man sie findet, ist auf „Ghost Stories“ höchstens noch in müden Anklängen zu finden. Weil er so viel über die verlorene Liebe erzählt und Gwyneth, kommt man beim Hören der Platte irgendwie nicht umhin, sich den Mann beim Schreiben vorzustellen, und man stellt sich jemanden vor, der in äußerster Sattheit an der eigenen Kunst wie Sisyphos zum Klavier geht, vielleicht aus dem noblen Gedanken heraus, dass die eigene Begabung mit einer Schuld einhergeht, dass man daraus etwas zu machen hat, und dann komponiert er Lieder, die er gleich mit dem Tonband aufzeichnen muss, weil er sie sonst auf der Stelle wieder vergessen würde. Im Grunde klingt die Platte so, als habe man irgendeinem neuen Teufelscomputer von Google alle Coldplay-Platten der Vergangenheit eingespeist, die Musik in Algorithmen verwandelt und die Maschine dann darum gebeten, neue Werke auszuspucken (verbleibende Rechenzeit: 2:38 Minuten).