Der Mann sieht aus wie eine mix-and-match-Puppenkomposition aus Disney-Prinzessin, Krokodilledergeldbeutel, Haarlawine und Kater (sowohl das Tier, das schnurrt, als auch die Kopfschmerzen, die vom Saufen kommen). Dazu singt er wie die Überblendung von Geigenweinen, Mandelbrand, Stottermotor, Sexualehrgeiz und Bunte-Halstücher-Blues. Das fanden Rock-Fans in den Siebzigern wild, in den Achtzigern gigantisch, in den Neunzigern eine sichere Bank; seitdem finden sie‘s klassisch. Sie hatten und haben recht.

Redakteur im Feuilleton.
Denn als Sänger und Mikrofonständerwerfer von Aerosmith schenkte Steven Tyler ihnen im Laufe der Jahrzehnte nicht nur unverwüstliche Songs zum Rodeoreiten und Jeansbügeln, sondern war auch an Musikvideos wie „Walk this Way“ (eine Eigencoverversion mit Run DMC, 1986) „Amazing“ (1993), „Cryin‘“(auch 1993) und „Living on the Edge“ (ebenfalls 1993, es war ein gutes Jahr) beteiligt, die zur Blütezeit dieser Filmchengattung mit ihrem utopischen Schwung noch die outiertesten Produktionen des Blockbusterkinos von der Bühne bliesen oder wie das heißt.
Das Bandkonzept von Aerosmith ist die handelüsbliche Doppelspitze aus große Klappe und Gitarrenfeinmechaniker, die man auch bei Led Zeppelin (Robert Plant und Jimmy Page), Deep Purple (Ian Gillan und Ritchie Blackmore), vor allem aber bei den Rolling Stones (Mick Jagger und Keith Richards) findet. Tyler allerdings hat sich zur Jaggermaske gleich noch den halben Richards ins Gesicht gesaugt, weswegen Joe Perry sich mit der anderen Hälfte begnügen und dafür dann halt längere Gitarrensoli aus dem Apparat kurbeln muss.
Ansonsten steht der Gitarrist, dessen seltene Gesangsproben nicht nötig gewesen wären, immer dann, wenn sich die beiden gerade einig sind und weder keifen noch einander zwicken, nach Möglichkeit nicht im Weg rum und grummelt aus dem Off: „Wenn Steven irgendwo alleine ein Interview gibt, halte ich immer erst mal die Luft an“ – auch wenn das bedeutet, sich beherrschen zu müssen, falls Tyler im betreffenden öffentlichen Gespräch gerade mal wieder eine dieser Abschiedstourneen ankündigt, von denen die anderen in der Band noch gar nichts wissen.
Abgesehen vom prächtigen Kitsch eines Balladenmusters, bei dem der Sänger auf dem Gipfel des Liedbogens im totalen Dammbruch sein Geheul weltumarmend ins Unbegreifliche entgrenzt (Maßstab: „I don’t want to miss a thing“, 1998), weiß Tyler auch als großer Selbstironiker zu gefallen und hat mit „Dude (looks like a lady)“ (1987) und, indirekter aber noch treffender, mit der Zeile „There’s a girl living under my skin“ (2001) ohne falsche Scham den Umstand thematisiert, dass selbst ein gelegentlich auf die Oberlippe gemalter Schnauzbart seine androgyne Erscheinung kaum nennenswert vermännlicht – seine Tochter Liv, eine hochachtbare Schauspielerin, schaut einen Klacks maskuliner (und aufgrund dieses Widerspruchs sogar einen Tick schöner) aus als er, dessen unbezähmbarer Bewegungsdrang ihn zuletzt als Solokünstler Richtung Country (nun ja, Cross Country: wenn sich’s machen läst, mit seltsamen Verzierungen) zappeln ließ.
Angst vor Blamagen im Ungewohnten kennt Tyler nicht, seine Umwelt sähe er gern genauso lebhaft und unternehmungslustig wie sich selbst (dem armen W. Axl Rose von Guns’n’Roses zum Beispiel gibt er ab und zu die nötigen Schubser, wenn der zu ermüden droht), und zur Ruhe kommen dürfte er voraussichtlich überhaupt nie.
Heute wird dieses bunte Tischfeuerwerk aus der Erotikboutique angeblich siebzig Jahre alt.