Rezension: Sachbuch : Wer fragt, gilt schon als Antimodernist
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Christoph Werth tutet in das große Horn eines wildgewordenen Prokapitalismus
Christoph H. Werth: Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945. Mit einem Vorwort von Karl Dietrich Bracher. Westdeutscher Verlag Opladen 1996. 388 Seiten, 59,- Mark.
Zur Zeit ist es Mode, den Antimodernismus zu jagen und in seinen Schlupflöchern aufzustöbern. Ein jüngster Beitrag dazu ist Christoph Werths Buch über die deutschen Ideologien zwischen 1918 und 1945.
Wie immer in solchem Zusammenhang muß mein armer Großvater dran glauben. Er muß es sich gefallen lassen, mit Naumann, Spengler, Niekisch, Rathenau, Jünger, Sombart und Schlimmeren in eine Reihe gestellt zu werden. Die Tatsache, daß Ferdinand Tönnies die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ausdrücklich zu dem Zweck getroffen hat, die ihm verhaßte politische Romantik auf den ihr angemessenen Bereich zu beschränken - nämlich die Gemeinschaft - und dem rationalen Naturrecht der Aufklärung seinen legitimen Raum zu schaffen - nämlich die Gesellschaft -, wird hartnäckig ignoriert. Auch die Tatsache, daß er 1928 in die SPD eintrat und zu seinem Schaden noch nach 1933 gegen Hitler protestierte, wird ihm nicht angerechnet. Gemeinschaft und Gesellschaft, so meint Werth unter Berufung auf René König, war ein "agitatorisch optimal verwertbares Modell".
Werth befindet sich in der übersteuerten prokapitalistischen Gegenbewegung, in der die Intelligenzija zur Zeit ihre jugendlichen Verirrungen kompensiert. Hier wird eine unparteiische, die Vorzüge von Gemeinschaft und Gesellschaft gegeneinander abwägende Betrachtung übelgenommen. Wer die mit dem unabänderlichen Transformationsprozeß einhergehenden Verluste ebenso wie die Gewinne registriert, gilt schon als Antimodernist.
Dem korrespondiert, daß sich die andere Hälfte der Intelligenz auf der Seite des Kommunitarismus versammelt hat, wo man für die Gemeinschaft strammsteht und die mit der modernen Gesellschaft verbundenen liberalen Werte geringachtet. Dort kann man mit Tönnies nichts anfangen, weil man auf dieser Seite sehr wohl bemerkt, daß er hinter den liberalen Werten steht. Er ist ein parteiloser Geselle, der von beiden Seiten verstoßen wird. Obwohl sie genau an der von ihm gezogenen Trennlinie ihre Fronten bilden, bringen beide Parteien gern zum Ausdruck, wie überflüssig, verschwommen und wertlos diese Grenzziehung war.
Die von König beeinflußte gesellschaftsfreudige Richtung stellt das Tönniessche Konzept als rückwärtsgewandte Gemeinschaftsideologie hin und ignoriert die dort herausgearbeiteten positiven Züge der Gesellschaft: das individuierte, abstrakte Menschenbild, das rationale Naturrecht mit seiner Gleichheitsmaxime und die Herausbildung eines ausdifferenzierten, dem Allgemeinwohl dienenden Staates. Statt sich über die Vorzüge des von ihnen favorisierten Sozialtypus belehren zu lassen, verschweigen die Liebhaber der Gesellschaft die von Tönnies vorgenommene Würdigung der modernen Verhältnisse, in denen die Freiheit an die Stelle der Abhängigkeit, die Gleichheit an die Stelle der Hierarchie und die Ethik an die Stelle der Sitte tritt.
Dabei erlaubt sich Christoph Werth einen besonderen Scherz. Er greift die Passage auf, in der Tönnies sich darüber beklagt, daß man keine Position finde, die zwischen den beiden Sozialtypen nicht Partei nimmt: "Auch die gelehrten Schriftsteller vermögen beinahe niemals von ihren Urteilen des Gefallens und Mißfallens sich zu befreien und zu einer durchaus unbefangenen, streng objektiven Auffassung der Physiologie und Pathologie des sozialen Lebens zu gelangen. Sie bewundern das römische Reich; sie verabscheuen den Ruin der Familie, der Sitte. Den Kausalnexus zwischen den beiden Phänomenen zu sehen, ist ihr Gesicht nicht ausgebildet." Die Emanzipation des Individuums in der Gesellschaft habe ambivalenten Charakter: "Sie war der Sieg des Egoismus, der Frechheit, der Lüge und Künstelei, der Geldgier, der Genußsucht, des Ehrgeizes, aber freilich auch der beschaulichen, klaren, nüchternen Bewußtheit, mit welcher Gebildete und Gelehrte den göttlichen und menschlichen Dingen gegenüberzustehen wagen." Ausgerechnet mit diesem Satz belegt Werth Tönnies' einseitige Gemeinschaftsverfangenheit, indem er forsch den mit "aber" beginnenden zweiten Satzteil wegfallen läßt. Offenbar gehört er trotz der Belehrung, die ihm gerade in dieser Passage gegeben wird, zu den Gelehrten, die unfähig sind, den Kausalnexus zwischen den erfreulichen und unerfreulichen Phänomenen, die in Gemeinschaft ebenso wie in Gesellschaft begründet sind, zu ertragen.