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Rezension: Sachbuch : Unterm Vergrößerungsglas

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Wer die aktuellen Debatten um das Mandat der Vereinten Nationen in Bosnien, um den Krieg gegen das Taliban-Regime in Afghanistan oder um den Widerstand der Vereinigten Staaten von Amerika gegen den Internationalen Strafgerichtshof verfolgt, wird immer wieder Argumente finden, die aus älteren Schichten stammen.

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          Wer die aktuellen Debatten um das Mandat der Vereinten Nationen in Bosnien, um den Krieg gegen das Taliban-Regime in Afghanistan oder um den Widerstand der Vereinigten Staaten von Amerika gegen den Internationalen Strafgerichtshof verfolgt, wird immer wieder Argumente finden, die aus älteren Schichten stammen - sei es aus der Gründungsepoche der Vereinten Nationen, aus den Auseinandersetzungen um den Genfer Völkerbund in den zwanziger und dreißiger Jahren oder aus der Gründungsepoche des modernen Völkerrechts im späten neunzehnten Jahrhundert.

          Diese Argumente tragen die ihnen eigentümliche historische Färbung mit sich. Sie haben sich tief in den Politiken der Staaten und Völker festgefressen. Die mit ihnen verbundenen Konflikte sind mehr präsent, als die meisten wahrhaben wollen. Wo einander überlappende Staatsgrenzen und kulturell-ethnische Grenzen Konflikte provozieren, wo Kriegsverbrechen zu ahnden sind, wo Minderheiten das Ausland um Hilfe rufen oder auf Terror setzen, wo Großmächte militärisch intervenieren, überall wird um Völkerrecht gerungen. "Recht" wird behauptet oder beschworen, ebenso wie die Rechtsstandpunkte des Gegners geleugnet werden.

          Deshalb ist die Geschichte des Völkerrechts ein faszinierendes Überschneidungsgebiet von Politik und Recht. Völkerrecht, so durchsetzungsschwach und rhetorisch mißbraucht es auch sein mag, stammt aus der Anstrengung der Neuzeit, die Gewalt zu reduzieren, Verfahren des Ausgleichs zu erfinden, Kollektiv- und Individualrechte in verbindliche Dokumente zu gießen und Gerichtshöfe zu installieren. Es ist, wie der finnische Völkerrechtler Martti Koskenniemi sagt, "the gentle civilizer of nations". Sein Buch schildert die gerade zurückliegende, etwa hundertjährige Epoche des "International Law" mit den Mitteln der modernen Wissenschaftsgeschichte. Koskenniemis Interesse gilt den europäischen Autoren des Völkerrechts mit ihren Visionen und Einsichten, aber auch Blindheiten und Ängsten. Ihre Positionen werden bei ihm nicht in rechtstheoretischer Absicht "rational rekonstruiert", sondern als Aussagen in ihrer Zeit, also historisch ernst genommen und in den ideengeschichtlichen, politischen und publizistischen Kontext eingefügt. Das fordert viel Sensibilität und eine umfassende Kenntnis der europäischen Debatten; denn Völkerrecht entwickelt sich zwar im internationalen Kommunikationszusammenhang, bleibt aber doch immer wieder im Geflecht der nationalen Interessen und Denkgewohnheiten hängen.

          Koskenniemi beschreibt zunächst den neuen Bedarf an Völkerrecht, wie er seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vielfach artikuliert wurde. Das alte, als Zwilling des rationalen Naturrechts des achtzehnten Jahrhunderts ausgeformte Völkerrecht funktionierte seit dem Wiener Kongreß nicht mehr wirklich. Die Verwandlung der dynastischen Staaten in Nationalstaaten gab zugleich dem "Internationalismus" starke Impulse. Die Eisenbahnen ermöglichten internationale Kongresse und Weltausstellungen. Der "Fortschritt" gewann ein unbezweifelbares Pathos. Nicht nur das Rote Kreuz, die olympische Bewegung, der Pazifismus und die Frauenbewegung entstanden, auch internationale Institute für Völkerrecht mit entsprechenden Zeitschriften. Völkerrechtsleugner stritten mit Völkerrechtsenthusiasten. Während sich die "zivilisierten Nationen" Kolonien aneigneten und sich im Zeichen von CCC (Civilization, Commerce, Christianity) Völker unterwarfen und Protektorate einrichteten, sorgte sich eine Minderheit der Völkerrechtler zunehmend um die rechtliche Bändigung des Imperialismus und Kolonialismus. Mehrheitlich dachten die Völkerrechtler aber liberal und hielten einen "gesunden" Nationalismus für selbstverständlich. Sie fanden nichts dabei, im Namen des Fortschritts die europäische Überlegenheit zu predigen und "Negerhäuptlingen", mit denen sie schriftliche Verträge schlossen, die Rechtsfähigkeit abzusprechen.

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