Rezension: Sachbuch : Ein feingezeichnetes, gedrängtes Bild
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Gerhard A. Ritter über Deutschland
Gerhard A. Ritter: Über Deutschland. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. C. H. Beck Verlag, München 1998. 303 Seiten, 39,80 Mark.
Auch fast zehn Jahre nach Wiederherstellung der nationalstaatlichen Einheit sind informative und erhellende Bücher über Deutschland eine Seltenheit. Schon deshalb nimmt man Gerhard A. Ritters "Über Deutschland" erwartungsvoll zur Hand. Der Titel erinnert an die wenigen epochenübergreifenden Darstellungen Nachkriegsdeutschlands, wie sie Karl Dietrich Bracher, Ralf Dahrendorf, Norbert Elias und Christian Graf von Krockow in früheren Jahren vorgelegt haben. Aber es geht Ritter nicht um eine übergreifende, gar theoretische Problemsicht.
Zunächst wendet er sich den Institutionen der alten Bundesrepublik zu, dann denen der DDR, um am Ende den Blick auf die wiedergewonnene staatliche Einheit und die Überwindung der sozialen und ökonomischen Ost-West-Teilung zu lenken. Die viel zitierte Zäsur des Jahres 1945 erweist sich im Rückblick als Produkt von Wunschdenken und polemischer Überzeichnung. Weder haben jene recht behalten, die an eine Stunde Null glaubten, noch erfüllten sich die Prophezeiungen einer Wiederherstellung vordemokratischer Verhältnisse. Der "Neuaufbau", so faßt Ritter die inzwischen umfangreiche Literatur zur Modernisierung im Wiederaufbau treffend und mehrdeutig zusammen, war "doppelbödig". Kennzeichnend war "das Nebeneinander von Altem und Neuem". Dabei erscheinen ihm die Veränderungen auffälliger und aufs Ganze gesehen ausschlaggebend: In der Bundesrepublik konnten die überkommenen Klassengegensätze überwunden werden zugunsten einer größeren Angleichung der sozialen Verhältnisse, verloren die ostelbischen Eliten ebenso ihre Macht wie der deutsche Militarismus seine politische Vormachtstellung und soziale Geltung.
Grundgesetz aus Erfahrung.
Darüber hinaus gelang es, die konfessionelle Spaltung zu überwinden, und an die Stelle der Ostwest-Mittellage trat die Anbindung des westdeutschen Teilstaates an die atlantische Allianz und die westeuropäische Integration. Vor diesem Hintergrund gewann die Verarbeitung historischer Erfahrung im Grundgesetz erhebliche Bedeutung: der Weimarer Gegensatz von präsidentieller und parlamentarischer Regierungsform wurde beseitigt, die politischen Parteien ebenso aufgewertet wie die Grundrechte. Sie stehen nun am Anfang der Verfassung und sind für den Gesetzgeber, die Exekutive und die Gerichte unmittelbar geltendes Recht. Eine weitere Konsequenz war die Errichtung eines Bundesverfassungsgerichts. Dessen große Bedeutung wird ebenso gewürdigt wie die politischen Kosten des Verfassungshüters nicht verschwiegen werden.
Die großen politischen Veränderungen und sozialen Integrationsleistungen nehmen in dieser Bilanz zu Recht einen herausgehobenen Platz ein: die Aufwertung und Entfaltung föderativer Strukturen; die Entstehung einer überkonfessionell-christlichen Volkspartei und die Umwandlung der SPD von einer Arbeiter-Klassenpartei in eine Arbeitnehmer-Volkspartei. Der Herausbildung von zwei großen Volksparteien ist es im übrigen zu danken, daß das links- und rechtsextremistische Wählerpotential integriert oder an den Rand des politischen Spektrums gedrängt werden konnte. Beachtlich war die Integration der etwa 12 Millionen Flüchtlinge. Der Mitte der fünfziger Jahre beginnende Zustrom von ausländischen Arbeitskräften machte die Bundesrepublik zu einem der größten Einwanderungsländer und konfrontiert sie bis heute mit erheblichen Problemen. Einschneidend war der Wandel der Mentalitäten, Lebensstile und Wertorientierungen und nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die faktische Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die 1994 in Art. 3.2 GG zur Staatsaufgabe gemacht wurde. Tendenzen der "Amerikanisierung" der Bundesrepublik werden ebenso angedeutet wie solche der "Sowjetisierung" in der DDR.