Rezension: Sachbuch : Alle Macht dem Rat der Arbeitslosen!
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In Odessa war immer alles anders: Das "Lumpenproletariat" bildete 1917 einen eigenen Sowjet
Tanja Penter: Odessa 1917. Revolution an der Peripherie. Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Band 32. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2000. 469 Seiten, 98,- Mark.
Odessa ist "anders", da waren sich alle Beobachter einig. Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Territorium einer ehemaligen Tatarenfestung gegründet, 1819 zum Freihafen erklärt, war die Neugründung am Schwarzen Meer binnen weniger Jahrzehnte zur Handelsmetropole und viertgrößten Stadt des russischen Imperiums aufgestiegen. Die Stadt verdankte diese stürmische Entwicklung dem Getreidehandel und der Quirligkeit, Weltoffenheit ihrer Bewohner.
Der "Odessaer" war - so hat es Isaak Babel1916 beschrieben - "das genaue Gegenteil des Petrograders". Wenn ein Mann aus Odessa in die Hauptstadt kam, fiel er auf, weil er "ein wenig Sonne und Leichtigkeit" mitbrachte. Während "geheimnisvoller und schwerer Nebel" Petersburg umhüllte, gab es in Odessa "süße und ermüdende Frühlingsabende, den starken Duft der Akazien und das gleichmäßig flutende, berückende Mondlicht überm dunklen Meer". Im Hafen sah man "Dampfer aus Newcastle, Cardiff, Marseille und Port Said", "Neger, Engländer, Franzosen und Amerikaner".
Odessa war "anders", dazu trug auch die bunte Vielfalt seiner Bevölkerung bei, mit der sich die Stadt vom Umland abhob: Selbst in einem ukrainischen Umland gelegen, machten die Ukrainer in der Stadt nur eine Minderheit (weniger als 10 Prozent) aus. Fast die Hälfte (über 49 Prozent) der Bewohner waren Russen, gefolgt von den Juden, die etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung und das eigentliche Ferment in der Stadt ausmachten, zusammen mit den Angehörigen einer Vielzahl anderer sprachlich-kultureller Gruppen, von denen stellvertretend nur die Polen, Deutschen, Griechen, Tataren, Armenier und Franzosen genannt seien. Sie brachten der Stadt den Ruf ein, ein "modernes Babylon" zu sein.
Die ethnischen Unterschiede überschnitten sich auf vielfältige Weise mit politischen und sozialen, wobei sie sich gegenseitig verstärken oder auch neutralisieren konnten. Hier gab es, wie Babel es ausdrückte, "ein sehr armes übervölkertes und leidendes Judenghetto, eine sehr selbstzufriedene Bourgeoisie und eine sehr reaktionäre Stadtduma". Während im gepflegten Boulevardbezirk der Innenstadt die vornehmen Besucher und Besitzer der Geschäfte, der Banken, der Börse und der kulturellen Einrichtungen dominierten, sich "Luftmenschen" bei den Cafés herumtrieben, "um einen Rubel zu verdienen und ihre Familien zu ernähren", lagen abends "in den komischen Kleinbürgerdatschen unterm dunklen Samthimmel dicke und komische Bourgeois mit weißen Socken auf Sofas und verdauten das deftige Abendbrot". Vor allem aber hatte es Babel das proletarisch-jüdische Milieu der Randbezirke, in den Vorstädten Moldavanka und Peresyp, angetan, wo eigene Gesetze, die Gesetze der Unterwelt, der Banden, Banditen und Schmuggler galten; diesen "Aristokraten der Moldavanka" hat Babel später ein literarisches Denkmal gesetzt, in den Erzählungen über Benja Krikoder Ljubka Schneeweis.Kam diese "Andersartigkeit" Odessas auch 1917 zum Ausdruck, als Hungerunruhen und Streiks im fernen Petersburg den Zaren stürzten und eine neue Provisorische Regierung die Staatsgeschäfte übernahm? Sie versprach bürgerliche Reformen, setzte aber den Krieg fort und bekam die ererbten Probleme trotz mehrfacher Umbildung des Kabinetts nicht in den Griff. Je länger sie regierte, desto mehr verspielte sie den Rückhalt bei Arbeitern, Soldaten und Bauern, die nach Brot, Frieden und einer Agrarreform verlangten.