: Kreml und Zion
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BIROBIDSHAN. Anfang 1934 errichtete die sowjetische Regierung das "Jüdische Autonome Gebiet" nahe der chinesischen Grenze, 5000 Kilometer von Moskau entfernt. Diese dünnbesiedelte und unwirtliche Region mit ihrer Hauptstadt Birobidshan sollte die neue Heimat der sowjetischen Juden werden. Mit diesem Projekt ...
BIROBIDSHAN. Anfang 1934 errichtete die sowjetische Regierung das "Jüdische Autonome Gebiet" nahe der chinesischen Grenze, 5000 Kilometer von Moskau entfernt. Diese dünnbesiedelte und unwirtliche Region mit ihrer Hauptstadt Birobidshan sollte die neue Heimat der sowjetischen Juden werden. Mit diesem Projekt verfolgte die Kommunistische Partei der UdSSR mehrere Ziele: Sie wollte eine Enklave schaffen, "in der eine säkulare jüdische, im Jiddischen wurzelnde und sozialistischen Prinzipien verpflichtete Kultur eine Alternative zu Palästina" bot. Die Konzentrierung der Juden im Fernen Osten sollte den Aufbau jüdischer Siedlungen in den europäischen Sowjetrepubliken verhindern und zugleich die Erschließungsprogramme der Fünfjahrespläne in Fernost fördern. Das Projekt einer jüdischen Heimstatt fand zunächst großen Anklang, innerhalb wie außerhalb der UdSSR. Jiddisch wurde neben Russisch zweite Amtssprache. Es entstanden jiddische Tageszeitungen, Verlage und Theater. Prominente Persönlichkeiten in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, unter ihnen Albert Einstein, unterstützten das Projekt publizistisch und finanziell, auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch 1948 scheiterte die Wiederbelebung des Birobidshan-Projekts. In der Befürchtung, daß die sowjetischen Juden sich nach Gründung des Staates Israel politisch illoyal verhalten würden, lancierte Stalins Regime eine antisemitische Kampagne, die jede kulturelle Selbständigkeit der Juden in der Sowjetunion konterkarierte. Jüdische Intellektuelle wurden fortan als "entwurzelte Kosmopoliten" und "Lakaien der westlichen bourgeoisen Kultur" geschmäht und verfolgt. Die antijüdische Politik am Ende der Stalin-Ära versetzte dem Birobidshan-Experiment den Todesstoß. Folgt man dem Vorwort von Arno Lustiger, war Birobidshan "der letzte, am längsten währende und vollständig gescheiterte Versuch der sowjetischen Führung, ein jüdisches autonomes Territorium zu schaffen und dort - als Konkurrenzprojekt zur zionistischen Kolonisation Palästinas - Juden als Bauern anzusiedeln". Wer mehr wissen will über dieses wenig bekannte Experiment und seinen wechselvollen Verlauf, dem sei das gut lesbare und anschaulich illustrierte Buch empfohlen - nicht zuletzt wegen der Fülle neu erschlossener Quellen aus russischen Archiven. (Robert Weinberg: Birobidshan. Stalins vergessenes Zion. Illustrierte Geschichte 1928-1996. Aus dem Amerikanischen von Andrea Marenzeller. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 2003. 158 Seiten, 19,50 [Euro].)
HANS-JÜRGEN DÖSCHER