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Politik und Raum : Revolte der Körper

  • -Aktualisiert am

Politik richtet sich an den Verstand. Doch die abstrakte Weltpolitik lässt die Körper revoltieren. Zum Vorteil der Patriarchen.

          2 Min.

          Wenn ein Dirigent ein Konzert leitet, verfolgt der Musiker nicht jede seiner Bewegungen, und es ist immer wieder ein Wunder, wie die einzelnen Stimmen ineinandergreifen und sich im Akkord von Geigen, Bläsern und Harfen ein Klangkörper bildet und in den Raum entschwebt. Der phänomenologisch inspirierte Psychiater Thomas Fuchs führt dies auf die ästhetische Körperintelligenz zurück, die dem Verstand vorgreift und einen zweiten, heimlichen Taktstock führt. Dies an die Adresse des neuen Volksbühnen-Impresario Chris Dercon, der ein Theater in jede Flughafenhalle verlegen zu können glaubt. Der globale Handymanager hat kein Gefühl für das Einschwingen der Körper, für den historisch gewachsenen Raum. Die überwunden geglaubte cartesianische Spaltung in Geist und Körper wird heute medial rekonstruiert. Der neue Dualismus ist wissenschaftlich untermauert. In der tonangebenden Psychologie kognitivistischer Prägung ist der Körper eine Black Box. Schopenhauers körperlicher Willensdiktator ist zum technologisch entmündigten Giftzwerg geschrumpft, der sein Serum in kleinen Dosen streut. Als Palästinenserführer Mahmud Abbas jüngst vor dem EU-Parlament die Legende von der lebensraumvernichtenden jüdischen Brunnenvergiftung wieder aufbrachte, brandete Applaus.

          Der Körper denkt langsamer um

          Was hat das mit der Gender-Forschung zu tun? Der Gender-Diskurs bewegt sich im Theorie-Futurismus, ist der Wirklichkeit, auch in seinen normativen Prägungen, immer zwei Schritte voraus. Wer die Welt durch diese Brille sieht, wird es seltsam finden, dass ein Chor den Sopran durchweg weiblich besetzt im Unterschied zum bärtigen Bass. Im avancierten Gender-Diskurs (Facebook bietet sechzig Geschlechtsidentitäten) ist die chromosomale Differenz entmachtet und das Geschlecht zur Spielmarke geworden. Die soziale Wirklichkeit ist jedoch widerständig. Schon die mit der Piratenpartei auf- und wiederabgestiegene Idee der Polyamorie scheiterte an ihrer binären Struktur. Trotz Reproduktionsmedizin und Leihmutterschaft spielt der biologische Sex tatsächlich noch eine Rolle, konstatieren GenderForscher mit Erstaunen („Sexuelle Vielfalt und die Unordnung der Geschlechter“, Transcript Verlag). Besonders bezeichnend, dass in Partnerschaften mit umgekehrtem Rollenmuster (sie verdient, er bleibt zu Hause) der männliche Partner als Ultima Ratio häufig den Geschlechtsverkehr verweigert, während sie sich danach sehnt, dass er im Bett den Ton angibt. Der Körper denkt langsamer um.

          Die Diskursspaltung zeigt sich auch in der Politik. Sie verläuft an der Linie zwischen geographisch indifferenten Kosmopoliten und identitären Regionalisten, die den durch den gemeinsam bewohnten Raum definierten Volkskörper beschwören. Es ist der Konflikt zwischen Zeit-Managern und Raum-Belegern. Im Hintergrund steht die alte philosophische Frage: Ist die Zeit- oder die Raumerfahrung primär? In der SZ sehnt sich der britische Autor Tim Parks nach einer mächtigen EU-Galionsfigur, zu der er in allen Sorgen und Komplexitäten vertrauensvoll aufblicken kann. Angela Merkel, schreibt Parks, ist es nicht. Das Volk hängt am Muskel des Patriarchen. Der Bärenjäger Putin und der Schürzenjäger Trump stoßen wie Springteufel aus dem Körperverließ. Und die „Zeit“ bringt das neue Magazin „Männer“ heraus, meldet die Agentur.

          Thomas Thiel
          Redakteur im Feuilleton.

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