Organspende : Ein Wertkonflikt am Lebensende
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Die absolute Zahl der postmortalen Organentnahmen befand sich 2010 auf ihrem Höhepunkt: 1296 Hirntoten wurden im letzten Jahr 4502 Organe entnommen Bild: dapd
Es klingt so einfach: Jeder Bürger soll einmal im Leben nach der Bereitschaft zur Organspende gefragt werden. Aber die Logik der jetzt von der Politik geforderten „Entscheidungslösung“ läuft dem Sinn der normalen Patientenverfügung zuwider.
Wenige bioethische Probleme bringen es so weit, Chefsache einer großen Koalition zu werden. In der Öffentlichkeit haben es Volker Kauder und Frank Steinmeier, die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen von Union und SPD, zu ihrem Anliegen gemacht, die Organknappheit in deutschen Transplantationszentren zu beseitigen. Die Situation für Patienten, deren eigene Organe versagen, ist in der Tat bedrückend: 12 000 Menschen stehen auf Wartelisten für Herzen, Lungen, Nieren, Leber, Dünndarm oder Pankreas. Sie müssen nach den offiziellen Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) durchschnittlich mit Wartezeiten von mehr als fünf Jahren rechnen – eine Frist, die einige nicht überleben.
Abhilfe soll jetzt die „Entscheidungslösung“ schaffen, auf die sich mit Kauder und Steinmeier nicht nur wichtige Bundespolitiker, sondern nun auch Ende der vergangenen Woche die Gesundheitsminister der Länder geeinigt haben. „Entscheidungslösung“ ist ein einprägsamer Begriff, der zupackendes Handeln suggeriert und auf Effizienz hoffen lässt. Konzeptionell ausgefüllt ist das Wort nicht. Eine solche „Lösung“, heißt es seit Monaten, soll dazu führen, dass Bundesbürger über sechzehn Jahre sich zum Thema „Organspende“ erklären. Konkreter ist das Projekt seitdem nicht geworden.
Lücken im System
In der vergangenen Woche veranstaltete der Gesundheitsausschuss des Bundestages eine Sachverständigenanhörung zum Thema „Rechtliche und ethische Aspekte der Organspende“, die sich ausdrücklich der „Entscheidungslösung“ widmen sollte. Es gab aber keinen Gesetzentwurf, über den sich die Experten, viele von ihnen selbst Transplantationsmediziner, hätten äußern können. Stattdessen hatte Volker Kauder die Entscheidungslösung in eine Fragelösung verwandelt: Der Staat solle seine Bürger nur darum bitten, Stellung zu beziehen. Jeder Mensch solle einmal in seinem Leben, „möglichst in jungen Jahren“, mit der Frage der Organspende konfrontiert werden.
Dass der Staat in diesem Sinne tätig werden soll, ist durchaus erklärungsbedürftig. Schon heute weist das Transplantationsgesetz die Aufgabe, jeden Bürger mit dem Thema Organspende zu konfrontieren und um eine Entscheidung zu bitten, öffentlichen und privaten Einrichtungen zu: Paragraph 2 des Transplantationsgesetzes verlangt, dass „die Krankenkasse und die privaten Krankenversicherungsunternehmen“ Informationsmaterialien und Organspendeausweise „in regelmäßigen Abständen ihren Versicherten, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, zur Verfügung“ stellen „mit der Bitte, eine Erklärung zur Organ- und Gewebespende abzugeben“.
Tatsächlich funktioniert dieses System vielerorts offensichtlich nicht – warum nicht, konnte bei der Sachverständigenanhörung zur „Entscheidungslösung“ niemand sagen. Ein Vertreter der Krankenkassen war nur zu einer vorangehenden Anhörung geladen, die knapp drei Wochen zuvor organisatorische und technische Fragen der Organspende zum Gegenstand hatte.
Therapie zu Lebzeiten
Was legen die Zahlen über die Aussichten der „Entscheidungslösung“ nahe? Die absolute Zahl der postmortalen Organentnahmen befand sich 2010 auf ihrem Höhepunkt: 1296 Hirntoten wurden im letzten Jahr 4502 Organe entnommen. Auch die Zahl postmortaler Organspender pro eine Million Einwohner war mit 15,9 so hoch wie nie zuvor in Deutschland. Trotz gleicher Gesetzeslage in allen Bundesländern gehen gerade diese Zahlen aber weit auseinander: In Hamburg lag auch ohne „Entscheidungslösung“ die Zahl der Organspender pro eine Million Einwohner bei 34,3, in Baden-Württemberg belief sie sich dagegen nur auf 12,5.