Das Ich und die Notwendigkeit
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Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux am Donnerstag bei der Pressekonferenz im Verlagshaus von Gallimard in Paris Bild: Reuters
Sie schreibt an der Schnittstelle von Literatur und Soziologie und öffnet den Raum immer für möglichst viele andere, wenn sie von sich spricht. Der Nobelpreis für Annie Ernaux ist eine phantastische Entscheidung.
Was für eine phantastische Entscheidung! Für die Literatur, für all ihre Leserinnen und Leser und jene, die es noch werden – und natürlich für die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux selbst, die am Donnerstag, als die Schwedische Akademie anrief, zunächst gar nicht ans Telefon gegangen war, sondern es immer nur hatte klingeln hören. Kameras filmten die französische Schriftstellerin dann, wie sie ihr Haus in Cergy-Pontoise verließ. In dunklem Mantel und einem rosarotem Schal um den Hals ging sie denen entgegen, die auf sie warteten. Und ihr Gesicht verriet dabei jene Mischung aus tiefem Ernst, Scheu und Stolz, die ihr eine unnachahmliche Aura und Größe verleihen – und die man exakt so auch in ihren Büchern findet.
Denn Annie Ernaux’ Bücher erzählen von Annie Ernaux: direkt, klar, ohne Umschweife, radikal. In einer Weise, die die Autorin, seit sie Mitte der Siebzigerjahre mit dem Schreiben begonnen hat, selbst erfunden hat: Als „Ethnologin ihrer selbst“ betrachtet sie sich von außen und reflektiert dabei die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen ist. Sie schreibt an der Schnittstelle von Literatur und Soziologie, verwandelt private Erinnerungen in eine gesellschaftliche Erzählung – öffnet den Raum der Autofiktion also auch immer für möglichst viele andere, wenn sie von sich spricht: Annie Thérèse Blanche Ernaux, geborene Duchèsne, zur Welt gekommen am 1. September 1940 in Lillebonne. Ihre Eltern – der Vater arbeitete ursprünglich als Knecht – hatten einen Laden mit Café in Yvetot in der Normandie, Annie besuchte ein Mädchenpensionat und war die Erste in ihrer Familie, die an einer Universität studierte. Scham wurde für sie zum prägenden Gefühl. Scham für ihre einfache Herkunft.
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