Zum Tod von Gernot Böhme : Die Natur in uns
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Gernot Böhme, 1937 bis 2020 Bild: juergen-bauer.com
Die Philosophie verstand er als eine Lebensform und Praxis. Für den modernen Menschen gelte es, ein Gefühl für die Natur zurückzugewinnen. Zum Tod von Gernot Böhme.
Es würde den Philosophen Gernot Böhme wahrscheinlich nicht gestört haben, hätte man ihn einen uncoolen Typen genannt. Coolness war für ihn Maske, eine Verfallsform des mündigen Menschen. Der souveräne Mensch, meinte er in einem von Svenja Flaßpöhler überlieferten Gespräch, lasse sich berühren. Braucht er dafür eine philosophische Anleitung? Böhme verstand die Philosophie als eine Lebensform und Praxis, die sich zu ihrem Nachteil von der Weisheitslehre getrennt hat. Wer ein Gefühl für die Natur, die wir selbst sind, bekommen will, muss als Philosoph wie als Alltagsmensch hinter die Fehlbildungen der technischen Moderne zurückgehen. An seiner Heimatuniversität Darmstadt, wo er seit 1977 lehrte, richtete Gernot Böhme in späteren Jahren ein Institut für praktische Philosophie ein, das den Einklang von Sinnlichkeit und Verstand, also auch Fühlen, Sehen, Schmecken erst wieder lehren sollte.
Die Lebensbedingung, aber nicht das Schicksal des modernen Menschen war für ihn die Fremdheit gegenüber sich selbst und einer Natur, die nur gefühllose Menschen Umwelt nennen. In seinem bekanntesten Werk „Das Andere der Vernunft“ (1983) stellte er gemeinsam mit seinem Bruder Hartmut dem berührungsscheuen Immanuel Kant die Diagnose, er habe dem Denken das Gefühl, die Lust und die Sinnlichkeit ausgetrieben. Die sinnliche Wurzel des Denkens reicht bei den Brüdern Böhme bis in Newtons Himmelsphysik zurück. Gefühl und Gestimmtheit sind in diesem Sinn nichts, was beiseitegelegt werden kann, wenn es ernst und verständig wird.
Die moderne Zivilisation ist für Böhme von einer Angst vor diesen Dimensionen grundiert und verirrt sich deshalb in Träumen, die den Körper zum Vehikel des Geistes degradieren oder ihn überwinden wollen. Dagegen stellte er eine Leibphilosophie, die darauf abzielt, die Natur in uns als Eigenes zu erfahren. Wer das erreicht hat, wird auch der äußeren Natur anders gegenübertreten. Eine Ökologie ohne Ästhetik ist ein unvollständiges Unternehmen.
1937 in Dessau geboren, kam Böhme über seinen Mentor Carl Friedrich von Weizsäcker zur Philosophie, zuvor hatte er Mathematik und Physik studiert. Seine Promotion und Habilitation schrieb er über verschiedene Formen der Zeiterfahrung. Unter dem Einfluss des Werks von Hermann Schmitz wandte er sich der Ästhetik zu, die er für Stimmungen und Affekte öffnete. Große Beachtung fanden seine Schriften über die Atmosphäre, in die Subjekt wie Objekt ohne eine klare Trennung eingelassen sind. Diese Grenze in sich aufzulösen war für Böhme eine Lebensaufgabe. Am vergangenen Donnerstag ist Gernot Böhme im Alter von 85 Jahren gestorben.