Nantucket : Kapitän Ahab würde sich wundern
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Der Wal! Da bläst er! Endlich kommt von der Brücke der befreiende Ruf. Zuvor hatte sich unter den Fahrgästen, die am frühen Morgen den Hafen von Nantucket verlassen hatten, schon etwas Unruhe ausgebreitet: Wann endlich kommen die Wale in Sicht? Wie viele werden es sein? Sehen wir überhaupt welche? Das Schiff ist unterwegs zum „whale watching“, einer organisierten Wal-Besichtigung auf dem Atlantik, und nun nähert es sich langsam und vorsichtig einer vorbeiziehenden Gruppe von Finnwalen, hält jedoch zunächst einen gebührenden Abstand.
Die Tiere sollen von allein herankommen, denn Rücksicht auf ihre Verhaltensweise ist hier oberstes Prinzip. Die Veranstalter an der Küste Neuenglands gelten in dieser Hinsicht weltweit als vorbildlich. Und tatsächlich zeigen sich die Wale kurz darauf mal auf der einen, mal auf der anderen Seite des Schiffes, tauchen auf und tauchen ab und führen eine aufregende maritime Tierschau vor. Mit großer Geschwindigkeit schießen sie knapp unter der Oberfläche durchs Wasser, springen gelegentlich paarweise synchron heraus und zeigen dabei ihre schmalen Rücken mit der spitzen Flosse.
„Whale watching“ an den Küsten Nordamerikas
Doch dies ist erst der Auftakt. Noch unterhaltsamer wird es, als die ersten Buckelwale heranschwimmen, die sich bei ihrer Nahrungssuche behäbiger durchs Wasser bewegen als die Finnwale. Ganz plötzlich strecken sie ihre Köpfe senkrecht aus dem Wasser, die riesigen Kiefer schnappen zu, und wenn sie abtauchen, heben sie auf fotogene Weise ihre schwarzweiße Schwanzflosse mit einem kühnen, rollenden Schwung in die Höhe. Das ungezwungene Spektakel, das kein Zirkus- oder Aquariumsdirektor besser inszenieren könnte, findet den ganzen Sommer über statt, denn in den fisch- und planktonreichen Gewässern des Nordatlantiks fressen sich die Wale eine Speckschicht an, die sie als Nahrungsreserve für ihre winterliche Wanderung gen Süden brauchen. Das Schiff der „whale watchers“ aber tuckert für heute wieder langsam in Richtung Nantucket davon. Der Tag ist gerettet: für die Touristen, denen die Meeresriesen ein seltenes Naturerlebnis geboten haben, für die Besatzung, die eine zufriedene Ladung zahlender Gäste an Land bringt, und natürlich für die Wale, die sich weiter in Ruhe ihrer Nahrungssuche widmen können.
Kapitän Ahab würde sich angesichts der munteren Wal-Touristen wahrscheinlich in seinem Seemannsgrab umdrehen, denn als er von Nantucket aus in See stach, waren die Wale Opfer einer gnadenlosen Jagd. Man war begierig auf ihr Öl und die sagenhaften Gewinne, die damit erzielt wurden, und in seinem besonderen Fall ging es um die erbitterte Verfolgung von Moby Dick, dem weißen Wal, der sein Schicksal werden sollte. Während die Romanfigur Ahab und seine realen Zeitgenossen nicht genug bekommen konnten von toten Walen, mag man sie heute lebend und schwimmend. Zwar rücken Nationen wie Japan, Russland und Norwegen den Meeressäugern derzeit wieder stärker zu Leibe, doch fechten Umweltschützer einen hartnäckigen Kampf dagegen aus, der gelegentlich zu brenzligen Scharmützeln auf hoher See führt. Die Wale sind zu einem Symbol des internationalen Tierschutzes geworden, der manchmal sogar in eine verklärende Schwärmerei mündet. Der verachtete Bösewicht von einst ist heute ein besonderer Liebling der Medien, und das „whale watching“ an den Küsten Nordamerikas hat sich zu einem lukrativen Tourismuszweig entwickelt. Und dort, wo das Beobachten der Tiere zum Geschäft wird, erweist sich ihr Abschlachten auch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus als unangebracht.
Vor der Insel schwimmt der Reichtum
Dass man ihm so viel Sympathie entgegenbringt, ist historisch ein Novum, seit je aber fasziniert der Wal. Die abenteuerliche Geschichte von Menschen und Walen beginnt im Alten Testament mit Jona, dem der Herr einen großen Fisch schickte, in dessen Bauch der Prophet drei Tage und drei Nächte überlebte und betete. Sie geht weiter mit den ehrfürchtigen Übertreibungen des Römers Plinius, der von Tieren berichtete, die „so lang sind wie vier Acker Landes“, und setzt sich später fort mit der Verteufelung des Wals als Meeresungeheuer und „Leviathan“. Ihren Höhepunkt erreicht sie im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, als Walfangflotten auf allen Weltmeeren unterwegs waren und das dabei erbeutete Öl die frühe Phase der Industrialisierung beschleunigte. Damals schrieb Herman Melville in seinem Roman „Moby Dick“ das spannendste und zugleich tiefsinnigste Kapitel dieser epischen Geschichte nieder, machte den besessenen Kapitän Ahab zu einer der großen Gestalten der Weltliteratur und den weißen Wal zum Mythos, den noch heute jedes Kind kennt. Im zwanzigsten Jahrhundert, als die meisten Walarten kurz vor der Ausrottung standen, fand die Geschichte allerdings einen kläglichen Abschluss. Doch dank internationaler Schutzabkommen darf sie nun vorläufig weitergehen, und ihr Ende ist offen.
Im dramatischen Verhältnis zwischen Mensch und Wal war die Insel Nantucket bislang zweifellos der wichtigste Schauplatz. Von hier aus wurde der Walfang systematisch zu einem weltumspannenden Geschäft entwickelt und der Aufstieg der Vereinigten Staaten zur führenden Walfangnation des neunzehnten Jahrhunderts eingeleitet. „Nantucket“, heißt es bei Melville, „ist das Ur- und Vorbild, das Tyrus für dieses Karthago; in Nantucket ist der erste von Amerikanern erlegte Wal an Land gebracht worden.“ Doch das war nur ein bescheidener Anfang. Die Bewohner der Insel trauten sich nämlich zunächst nur in Ausnahmefällen hinaus aufs Meer und kümmerten sich höchstens um zufällig gestrandete Wale. Nur wenige ahnten damals den Reichtum, der vor der Insel im Meer schwamm. „Im Jahre 1690“, so berichtete eine Inselchronik, „standen einige Leute auf einem Hügel und beobachteten die Walfische, wie sie bliesen und miteinander spielten. Da meinte einer von ihnen: Dort - er wies auf die See - ist eine grüne Weide, wo unsere Kindeskinder sich ihr Brot verdienen werden.“
Besen, Angelruten und Gelatine
Die Prophezeiung wurde eher wahr als gedacht, denn schon bald entschieden sich die verarmten Bauern und Schafzüchter, denen nach der Abholzung der Wälder die Versandung des Inselbodens zu schaffen machte, ihre Zukunft auf See zu suchen. Nach und nach widmete sich die gesamte Bevölkerung zielstrebig einer einzigen Aufgabe: dem Walfang. Gleich zu Beginn ließ man den erfahrenen Fischer Ichabod Paddock von Cape Cod kommen, der den Landratten den Umgang mit dem Meer beibrachte. Er gilt heute als Pionier des Walfangs auf der Insel, doch schon damals hatte er einen legendären Ruf. Man sagte ihm nach, dass er sich auf hoher See in die Bäuche von Walen hineinwagte, um dort Meerjungfrauen zu verführen.
Als Rohstoff war der Wal ein Vorläufer des Erdöls, sein Fett schmierte die Maschinen der industriellen Revolution und sorgte im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert für die Beleuchtung von Straßen, Wohnungen und Fabriken. Die Liste der aus Speck, Haut und Knochen hergestellten Produkte umfasste Seife, Farbe und Druckerschwärze, Bürsten, Besen und Angelruten, Gelatine, Hautcreme und Dünger, sogar Klaviertasten, Korsettstangen und Regenschirme. Vor dem Hintergrund einer ständig wachsenden Nachfrage nach Walprodukten vollzog sich der rasante Aufstieg Nantuckets zur Metropole des Walfangs. Zunächst fing man lediglich die Arten, die in Küstennähe vorbeischwammen. 1712 jedoch wurde ein Kapitän namens Christopher Hussey durch einen Sturm weit aufs Meer hinausgetrieben, wo er in den Schwarm einer damals noch wenig bekannten Walart geriet. Der heimgebrachte Pottwal erwies sich als Sensation. In einer Höhlung im Oberkiefer entdeckte man eine besondere Flüssigkeit: Sie erbrachte erstklassiges Öl, das sauberer brannte und sich zu Wachs trocknen ließ. Das so genannte Walrat wurde zu einem der begehrtesten Rohstoffe des frühen Kapitalismus und die Pottwale zum bevorzugten Jagdobjekt, das die Fischer von nun an über den gesamten Globus trieb.
Walspeck an fernen Stränden gekocht
Auf ihrer unermüdlichen Suche nach Pottwalen stießen die Schiffe von Nantucket aus in immer neue Meeresteile vor. Sie waren die Ersten, die den Lauf des Golfstroms erkundeten, und Benjamin Franklins maßgebliche Abhandlung über die Meeresströmung beruhte auf den Angaben seines Vetters, eines Seemanns aus Nantucket. Immer weiter segelten die maritimen Jäger aus Neuengland: nach Neufundland und in die Karibik, zu den Azoren, nach Madeira, an die Küste Afrikas, zu den Falklandinseln. 1791 umschiffte der erste Walfänger Kap Hoorn, um vor der Westküste Südamerikas auf Jagd zu gehen. Als besonders ergiebig erwiesen sich die legendären „offshore grounds“ bei den Galapagos-Inseln, später entdeckte man Fanggründe rund um Alaska, um Japan und in den Gewässern der Antarktis. Die führende Rolle der Walfänger aus Nantucket war unumstritten, und niemand hat sie nachdrücklicher beschrieben als Herman Melville in „Moby Dick“: „Ganz auf sich selbst gestellt sind diese Eremiten des Meeres ausgefahren aus dem heimatlichen Nest und haben zur See Eroberungszüge gemacht wie Alexander. Den Atlantik, den Pazifik und den Indischen Ozean haben sie unter sich geteilt, den drei Piratenmächten gleich, die sich Polen einverleibten. Und fügten die Vereinigten Staaten an Texas noch Mexiko und türmten Kuba auf Kanada, besetzten die Engländer ganz Indien und hefteten ihr loderndes Panier an die Sonne: Zwei Drittel der Erdkugel gehören Nantucket, denn sein ist die See. Sie gehört ihm wie dem Kaiser sein Reich, alle anderen Schiffer haben nur ein Wegerecht.“
Bis zu fünf Jahre dauerten die Fahrten, denn größere Schiffe konnten immer mehr Öl an Bord speichern. Während der Walspeck zu Anfang noch an fernen Stränden gekocht und in Fässer gefüllt werden musste, kamen später die Vorläufer der modernen Fabrikschiffe auf, die den Rohstoff gleich auf Deck verarbeiteten, so dass man Land nur anlief, wenn Trinkwasser oder Lebensmittel ausgingen. Kurs Richtung Heimat wurde erst genommen, wenn das letzte Fass gefüllt war. Weltumsegelungen gehörten deshalb zum Alltag, und Schiffe aus Nantucket waren häufig die ersten, die in völlig unbekannte Regionen vorstießen. „Cook, Krusenstern und alle Helden der Forschung in Ehren; von Nantucket aus sind Dutzende von namenlosen Kapitänen gesegelt, größer als mancher berühmte Entdecker“, schreibt Melville. „Die Männer aus Nantucket! Wovon die alten Reiseberichte aus der Südsee Märchen zu erzählen wissen, das war ihnen ihr Leben lang täglich Brot. Unsere Helden hätten nicht einmal im Logbuch verzeichnet, was Vancouver in drei Kapiteln ausmalt.“
Für immer verschwundene Schiffe
Dass die Walfahrten aber alles andere als ruhmreiche Entdeckungsreisen waren, zeigt die Ausstellung im „Whaling Museum“ von Nantucket, das in der ehemaligen „Hadwen & Barney Candle Factory“, einer Kerzenfabrik aus der Blütezeit des Walfangs, untergebracht ist. Hier wird der entbehrungsreiche Alltag auf den Schiffen dokumentiert. Ruderboote, Harpunen und Taue, Fässer, Werkzeuge, Messer, Schöpfkellen und Krüge erzählen von der harten Arbeit während der Jagd und bei der Verarbeitung des Wals. Einer der typischen Kesselöfen, die zum Speckschmelzen an Deck errichtet wurden, zeugt von einer rauchenden und stinkenden Prozedur, die die Seeleute besonders hassten. Man kann außerdem Seekarten, Ladelisten und Versicherungspapiere studieren und in Logbüchern oder privaten Briefen der Kapitäne lesen, die oft von schwerwiegenden Ereignissen wie dem Verlust von Beibooten oder dem Tod von Besatzungsmitgliedern berichten. Den anschaulichsten Eindruck von den Schwierigkeiten einer Walfangreise gibt eine Weltkarte, die eine ganze Wand einnimmt und auf der die Reiseroute des Walfängers „Alpha“ eingezeichnet ist, der von 1846 bis 1850 die Welt umsegelte und auf der Jagd nach Walöl mehrere Jahre lang zwischen Japan und der Antarktis im Pazifik kreuzte. Der dauernde Zickzackkurs, der nur selten Land berührte, und die in die Karte eingetragenen Zwischenfälle geben eine Vorstellung von den Anstrengungen und Entbehrungen, die der Mannschaft zugemutet wurden.
Kein Wunder, dass es bei diesen riskanten Unternehmungen zahlreiche Unglücke, Katastrophen und für immer verschwundene Schiffe gab. Und es versteht sich fast von selbst, dass auch die dramatischste Reise in der Geschichte des Walfangs in Nantucket begann: Nachdem die „Essex“ 1820 ihre Fanggründe mitten im Pazifik erreicht hatte, wurde das Schiff von einem Pottwal attackiert und sank. In drei Booten versuchten Kapitän und Mannschaft Land zu erreichen. Sie segelten wochenlang mit minimalem Proviant übers Meer, bevor die wenigen Überlebenden von anderen Schiffen aufgesammelt wurden. Aufsehen erregte der Fall vor allem deshalb, weil der erste Steuermann den Verlauf der Irrfahrt peinlich genau dokumentierte und dabei berichtete, dass die Schiffbrüchigen das Fleisch ihrer toten Kameraden verzehrt hatten. Das Schicksal der „Essex“, damals in aller Munde, gab Herman Melville, der selbst einige Jahre lang auf Walfängern im Pazifik unterwegs war, die Idee für seinen Roman vom angriffslustigen weißen Wal.
Ein Teil der Flotte wurde versenkt
Auf dem Rücken der einfachen Seeleute und Harpuniere wurde der Walfang zur ersten wirklich weltumspannenden Industrie, und die Schiffseigner und Kapitäne aus Nantucket waren die „global players“ des achtzehnten Jahrhunderts. „In Nantucket“, schreibt Melville, „legt man sein Geld in Walfängern an, wie unsereins mündelsichere Papiere kauft, die gute Zinsen tragen.“ 150 Walfangschiffe waren 1775 auf der Insel registriert, sie galt als einer der wichtigsten Rohstofflieferanten des britischen Empire. Sogar die zweimalige Vernichtung ihrer gesamten Flotte - während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und im Laufe des Konflikts mit England im Jahre 1812 - verkraftete die Walfangindustrie der Insel, denn nun brauchten die Vereinigten Staaten ihrerseits den wichtigen Rohstoff für den Ausbau einer konkurrenzfähigen Wirtschaft. Nach wenigen Jahren stand jeweils eine neue und an Tonnage sogar größere Flotte bereit. 1828 verkündete Daniel Webster im amerikanischen Senat die nationale Bedeutung der kleinen Insel vor der Küste von Massachusetts: „Nantucket selbst ist ein ganz besonderer und höchst beachtlicher Posten im Nationaleinkommen. Eine Bevölkerung von achttausend bis neuntausend Seelen lebt dort mitten im Meere und trägt Jahr um Jahr durch zähen, verwegenen Fleiß ein Beträchtliches zum Volksvermögen bei.“
Mehr als 4300 Walfahrten wurden von Nantucket aus registriert, bis der Walfänger „Oak“ 1869 zur letzten Fahrt aufbrach. Zu dieser Zeit hatte die Insel ihre Führungsposition allerdings längst verloren. Auf dem Höhepunkt des weltweiten Walfangfiebers zwischen 1830 und 1860 beherrschte die amerikanische Flotte zwar weiterhin das Geschäft - drei Viertel aller Schiffe kamen aus den Vereinigten Staaten -, doch die ständig größer werdenden Schiffstypen konnten die flache und enge Hafeneinfahrt von Nantucket nicht mehr sicher passieren. Immer mehr Walfänger nahmen deshalb Kurs auf das benachbarte New Bedford, das Nantuckets Rolle übernahm, sich daran aber nicht lange erfreuen konnte. Von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an nämlich musste der Walfang harte Schläge hinnehmen. Die radikale Dezimierung der Bestände führte zu einer massiven Verringerung der Fangergebnisse, im amerikanischen Bürgerkrieg wurde ein Teil der Flotte versenkt, und die Verwendung von Petroleum sowie die Erfindung von Kunststoffen nahmen den Walprodukten schließlich auch noch ihre marktbeherrschende Stellung.
„Gelbes Lagerhaus steuerbord“
Für einen Inselspaziergang klemmen wir uns noch einmal „Moby Dick“ unter den Arm und lassen uns von Ismael begleiten, jenem fiktiven Erzähler von Melvilles Geschichte, dem einzigen Überlebenden des Dramas von Ahab und dem weißen Wal. Der junge Mann war zielstrebig nach Nantucket gekommen, um dort auf einem Walfänger anzuheuern: „Mein Entschluss stand fest. Auf einem Segler aus Nantucket wollte ich fahren und auf keinem anderen, denn alles, was mit dieser berühmten Insel zusammenhing, hatte etwas erfrischend Raues an sich, das mir über die Maßen gefiel.“ Man versteht diese Vorliebe, denn das Frische und Raue ist hier nicht nur im stürmischen Herbst zu spüren, es mildert auch die schwüle, manchmal unerträgliche Hitze, die an Sommertagen über der amerikanischen Ostküste liegt. Wenn der Morgennebel zunächst nicht verschwinden will und gegen Mittag eine steife Brise aufkommt, hält das sogar die meisten Feriengäste vom Baden ab, und es kommt vor, dass man sich sogar um diese Jahreszeit am Strand allein mit Wind und Wellen wieder findet.
Umso mehr Betrieb herrscht zu dieser Stunde in den Straßen von Nantucket Town, die bis heute zum großen Teil mit den Kopfsteinen aus vergangener Zeit gepflastert sind. Ismael dürfte der Ort durchaus noch vertraut vorkommen, auch wenn er der Wegbeschreibung zu seiner Unterkunft, die er seinerzeit erhielt, damals wie heute zunächst mit einer gewissen Ratlosigkeit folgen würde: „Ein gelbes Lagerhaus steuerbords lassen und weiterlaufen, bis backbords eine weiße Kirche in Sicht kommt, alsdann backbords daran vorbei und drei Strich steuerbords um die Ecke, wo wir den ersten besten nach dem Wege fragen sollten.“ Aber verloren gehen konnte man in Nantucket früher nicht, und heutzutage würde dies dem Besucher erst recht schwer fallen, zumal die Einheimischen inzwischen dem Fremden gegenüber weitaus offener eingestellt sind als zu Ahabs Zeiten. Ismael beklagte bei seinem kurzen Aufenthalt ein „insulares Vorurteil und Misstrauen“, eine Haltung, die jetzt einem aufgeschlossenen Geschäftssinn gegenüber den zahlenden Gästen gewichen ist.
„Little Grey Lady of the Sea“
Geblieben aus der großen Zeit des Walfangs sind vor allem die Häuser. Über achthundert Gebäude aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert sind noch erhalten und stehen unter Denkmalschutz - mehr als in jedem anderen Ort der Vereinigten Staaten. Die Pflege der inseltypischen Architektur wird hier besonders ernst genommen; die Vorschriften für Restaurierung und Neubau füllen fast zweihundert Seiten einer Broschüre und gelten als die striktesten im ganzen Land. Sogar während der Hochkonjunktur der vergangenen zehn Jahre, als immer größere Teile der Insel mit Ferienhäuseren bebaut wurden, konnten diese Regelungen auffällige Bausünden verhindern und der Insel ihren traditionellen Charakter erhalten. In der Vergangenheit waren die Häuser mit verwitterten grauen Holzschindeln verkleidet, und auch die Villen der wohlhabenden Reeder und Kapitäne wichen nur selten von diesem unscheinbaren Äußeren ab. Viele von ihnen waren Quäker und legten keinen Wert auf die Zurschaustellung ihres Reichtums. Zum Glück verwendet man diesen einheitlichen Stil heute auch für die meisten Neubauten, so dass Nantucket seinen Beinamen „Little Grey Lady of the Sea“ weiterhin zu Recht trägt.
Wieder erkennen würde unser Gefährte aus dem neunzehnten Jahrhundert auch die so genannten „widow walks“: kleine, umzäunte Terrassen auf den Dächern, von denen aus die Ehefrauen der Seeleute angeblich sehnsüchtig nach den Schiffen ihrer Männer Ausschau hielten. Bei den mehrere Jahre dauernden Reisen dürfte dies allerdings ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen gewesen sein, weshalb es wohl wahrscheinlicher ist, dass man auch damals schon einen Blick hinaus aufs Meer zu genießen wusste. Im Übrigen hatten die Frauen gar nicht die Zeit, als trauernde Witwen über ihre Dächer zu promenieren, denn da fast alle Männer zur See fuhren, mussten sie neben der Betreuung von Haushalt und Familie auch das örtliche Geschäftsleben abwickeln. Deshalb gab es hier schon im achtzehnten Jahrhundert eine ganze Reihe von Unternehmerinnen, die in der Walindustrie und anderen Branchen erfolgreich waren.
Moby-Dick-Kitsch
Erst beim Verlassen von Nantucket Town würde Ismael wahrscheinlich merken, dass sich in den vergangenen einhundertundfünfzig Jahren doch wesentliche Veränderungen zugetragen haben. Während er noch von einem „Sandhügel ohne Hinterland“ berichtete, „geformt wie ein Ellbogen, Düne durch und durch“, ist Nantucket heute eine exklusive Ferienkolonie der Geldaristokratie von Neuengland. Im Zuge ihrer luxuriösen Neubesiedlung haben die Hausbesitzer dafür gesorgt, dass die einst kahl geschlagene und versandete Insel wieder mit Bäumen, Hecken, Rhododendron und Rosenbüschen bepflanzt ist und sich landschaftlich weitaus hübscher präsentiert als früher. Jeder Quadratmeter des ehemaligen Sandhügels ist ein kleines Vermögen wert, allein im vergangenen Jahrzehnt sind die Preise von Häusern noch einmal um mehr als das Fünffache gestiegen. Nach über hundert Jahren Stillstand hat sich die graue Walfangmetropole in eine goldene Immobilie verwandelt. Der außer Rand und Band geratene Grundstücksmarkt wäre für unseren einfachen Seemann vollkommen undurchschaubar, und selbst die verwegensten Spekulanten im florierenden Walgeschäft des neunzehnten Jahrhunderts würden staunen, dass sich ihre karge Insel zu einem der teuersten Flecken Erde in Amerika gemausert hat.
Zum Abschluss laden wir Ismael in eines der typischen Fischrestaurants am Hafen ein. Dort kann er überprüfen, ob der berühmte „Quahog Chowder“ noch nach dem Rezept zubereitet wird, das er damals so begeistert beschrieb: „Nicht eine Miesmuschel, nein, viele winzig kleine, saftige Muscheln, kaum größer als Haselnüsse, waren darin, untermischt mit zerstoßenem Schiffszwieback und dünnen Scheibchen gepökelten Schweinefleisches, das Ganze mit Butter schmackhaft gemacht und reichlich mit Pfeffer und Salz gewürzt.“ Das Original jedoch haben wir nirgends gefunden. Die Muscheln sind ausgezeichnet und frisch wie eh und je, die Zutaten freilich wurden verfeinert und den Ansprüchen moderner Gourmets angepasst. Vielleicht ist das Rezept aber auch einfach vergessen worden, weil selbst hier in Nantucket nur wenige Melvilles Text wirklich kennen. Die Geschichte von Moby Dick hat zwar jeder gehört, der Roman selbst aber war trotz aller literarischen Anerkennung nie besonders populär. Dafür wird der weiße Wal allerdings auch touristisch nicht aufdringlich strapaziert, und man bleibt von banalem Moby-Dick-Kitsch in Schaufenstern und Andenkenläden verschont.
Anreise : Das ganze Jahr über verbinden Personen- und Autofähren die Insel mehrmals am Tag mit Hyannis auf Cape Cod. Während der Sommermonate fliegt Cape Air stündlich von Boston nach Nantucket.
Transport auf der Insel : In der Sommersaison sind die Fährtarife für Fahrzeuge extrem hoch. Ein Auto ist dann allerdings auch nicht vonnöten, da in dieser Zeit mehrere Strände und die wichtigsten Orte regelmäßig mit Pendelbussen zu erreichen sind.
Reisezeit : Im Sommer ist Nantucket ein betriebsamer Badeort, im Juli und August ist die Insel jedoch überlaufen. Zu empfehlen ist der September, wenn der Massenbetrieb vorbei ist, die Wassertemperaturen aber noch angenehm sind. Während des Winterhalbjahrs ist das Wetter unbeständig, kühl und zuweilen stürmisch, Nantucket zeigt dann mehr von seinem ursprünglichen Charakter.
Strände : Die gesamte Insel ist von fabelhaften Sandstränden und Dünenlandschaften umgeben, die schönsten befinden sich an der Süd- und Ostküste. Auf einer mehrtägigen Strandwanderung kann man Nantucket vollständig umrunden.
Whale Watching : Von Juli bis Mitte September legen im Hafen Schiffe zur Walbeobachtung ab, und in der Regel bekommt man in den angesteuerten Zielgebieten Buckel-, Finn- oder Zwergwale zu Gesicht. Die Reviere vor der Küste von Massachusetts gehören zu den besten der Welt. Von Cape Cod aus gibt es ähnliche Touren zwischen Mai und Oktober.
Museen : Das „Whaling Museum“ von Nantucket dokumentiert auf etwas konventionelle Art die Geschichte des Walfangs auf der Insel. Ein Museum zum gleichen Thema auf dem Festland in New Bedford ergänzt diese Sichtweise mit einem moderneren Ausstellungskonzept.
Literatur : Wer Nantucket besucht, sollte die Reise mit der Lektüre von Hermann Melvilles „Moby Dick“ abrunden. Der Klassiker der Weltliteratur enthält detaillierte Beschreibungen des Walfangs und ist streckenweise auch eine brillante Reisebeschreibung.
Information : Chamber of Commerce, 48 Main St., Nantucket, MA 02554, Tel. (5 08)2 28-17 00, Fax (5 08)3 25-49 25, Website www.nantucketchamber.org.