Nachruf auf René Girard : Wir sind selbst die anderen
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René Girard 1923 - 2015 Bild: Divergence / StudioX
Menschen lernen durch Nachahmung, und die Kultur ist ein einziger Vorgang der mimetischen Vermittlung. Das war die zentrale These des Philosophen René Girard. Jetzt ist er im Alter von 92 Jahren verstorben.
In seinem letzten Werk „Angesichts der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken“, einem Gesprächsband, hat René Girard den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 als mimetischen Urkonflikt, der zu den Extremen führte, gedeutet. Diese Theorie der Mimesis, mit der Girard die Botschaft Gottes und den Lauf der Welt erklärt, geht auf sein erstes Buch „Figuren des Begehrens“ zurück. In den bekannteren Schriften („Das Heilige und die Gewalt“, „Der Sündenbock“) verfeinerte er sie. „Sieht nämlich ein Mensch, wie einer seiner Gleichartigen die Hand nach einem Gegenstand ausstreckt, ist er sogleich versucht, dessen Gestus nachzuahmen.“
Nicht ein Objekt der Begierde steuert das Verhalten, sondern das Begehren des anderen, der es haben will – erst dadurch wird es begehrenswert. Das Kind lernt durch Nachahmung, die Kultur ist ein einziger Prozess der mimetischen Vermittlung und die Mimesis der Gründungsakt der Gesellschaft. Sein Landsmann Michel Serres hat René Girard mit Darwin verglichen. Seine Theorie illustrierte der Anthropologe mit Weltliteratur: Cervantes, Flaubert, Proust und Shakespeares „Theater des Neids“. Er wurde 1923 geboren, als das deutsch-französische Verhältnis wegen der Ruhr-Besetzung auf dem Tiefststand war. Das Schema des deutsch-französischen „Zwillingskriegs der Vernichtung“ des anderen, der ein gleicher ist, diente Girard auch noch zum Verständnis des 11.September 2001.
Dabei wäre es ein Leichtes, die Eskalation ein für alle Mal zu beenden. Wie, das beschrieb René Girard in seinem Essay „Das Ende der Gewalt“. Diese wurde im Prozess der Zivilisierung kanalisiert, der Sündenbock-Mechanismus ist eine Etappe in der Überwindung des mimetischen Ur-Krieges aller gegen alle. Jesus aber hat ihn durchschaut, dank ihm sind für Girard, der 2000 Jahre später die frohe Botschaft entzifferte, Frieden und Versöhnung möglich geworden. Auf Grund seiner Gedanken fand Girard zum Glauben zurück – und wurde in den vergangenen Jahren auch zum Prediger. Man kann gewiss sein, dass der in Avignon geborene Anthropologe die Welt im Vertrauen auf Gott, ohne den er sie nicht verstehen wollte, verlassen hat.
Vielfach ausgezeichnet, war Girard nach seiner Aufnahme in die Académie Française „unsterblich“. Seine Bücher werden bleiben – als Deutungsschema und Zündstoff im Zwillingskonflikt der Religionen, zwischen denen er keine Gleichheit ausmachen konnte. Girard unterstützte Benedikt XVI. im Kampf gegen den Relativismus und freute sich über den Vormarsch des Katholizismus in den Vereinigten Staaten, wo er seit 1947 lebte. In Stanford ist er am Mittwoch im Alter von einundneunzig Jahren gestorben.