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Nachruf auf Lucio Dalla : Cantautore des Wirtschaftswunders

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Lucio Dalla (1943 - 2012)

Lucio Dalla (1943 - 2012) Bild: dpa

Er changierte zwischen Problemsong und Establishment. Jetzt ist seine rauhe Stimme verstummt. Zum Tode des italienischen Sängers Lucio Dalla.

          2 Min.

          Für viele Italiener bedeutete Lucio Dallas Musik so etwas wie eine Tonspur ihres Lebens. Immerhin debütierte der Musiker aus Bologna bereits 1964 mit einer Coverversion des Amerikaners Curtis Mayfield, um danach mit beeindruckender Kreativität und Hartnäckigkeit über fünf Jahrzehnte auf den Showbühnen, im Fernsehen und in den Hitparaden seines Landes präsent zu bleiben. Zu Markenzeichen wurden seine rauhe Stimme, sein variabler Scatgesang - gern auch bei eigentlich romantischen Liebesliedern - und seine beliebten Kopfbedeckungen: von der Proletenkappe bis zum Panamahut, vom Strickmützchen bis zum Borsalino.

          Wie etliche stilbildende Kollegen, etwa Adriano Celentano, Mina, Paolo Conte, hatte Dalla seine Wurzeln im Jazz, trat als Klarinettist und Keyboarder in diversen Bands auf, ging dann aber mit italienischer Leggerezza über zu den jeweiligen Stilen seiner Zeit: Beat, Rock, schließlich mündend in einen typisch italienischen Kolossalstil, irgendwo zwischen Orchesterschnulze und Problemsong. Letzteren bediente er etwa mit der Canzone „4. Marzo 1943“ über das blutige Ende des italienischen Faschismus; harmonischere Züge trug sein Megaerfolg „Caruso“ von 1986 über den berühmten Tenor - der sentimentale Ohrwurm wurde sowohl von Luciano Pavarotti wie von Andrea Bocelli gesungen.

          Das Geheimnis von Dallas Beliebtheit im eigenen Land bestand in seiner Anpassungsfähigkeit. Während manche Weggefährten in den bleiernen Jahren nach 1970 immer politischer oder zynischer wurden, blieb Dalla bei allgemeingültigen, kaum provokanten Wohlfühlliedern. Statt auf Demonstrationen zu gehen, wurde der kleingewachsene Sänger Teil des ästhetischen Establishments, spielte mit den Solisti Veneti Vivaldi, schrieb für die Oper Bologna ein Strawinsky-Ballett, schloss Bekanntschaft mit Malern wie Paladino, Cucchi oder Pistoletto - und ließ sich seine Videoclips von dem Regisseur Gabriele Salvatores drehen.

          Trauer um einen Charismatiker

          So lief Dallas Karriere reibungslos gleichauf mit dem Wirtschaftswunder seiner Heimat. Noch vor ein paar Tagen trat er, nach vierzig Jahren Absenz, gebräunt und vital beim Festival von San Remo auf, um einen jungen Cantautore am Orchesterpult zu unterstützen. Gestern erlitt Dalla, drei Tage vor seinem 69. Geburtstag, den Herztod bei Proben zu einer Schweiz-Tournee in Montreux - und seine Künstlergeste wirkt plötzlich wie eine Übergabe der Stafette an eine neue Musikergeneration.

          Nun wird Dalla gleichermaßen als Charismatiker betrauert - von Linken wie dem apulischen Kommunisten Nichi Vendola oder von Rechten wie dem lombardischen Gouverneur Formigoni. Die linke Hochburg Bologna, wo er mitten in der Altstadt wohnte, versinkt in Trauer; Berlusconis Sender, die Dalla lange boykottierte, ziehen mit. Nur vereinzelt gibt es kritische Töne: Dallas offen bekundete Sympathie fürs Opus Dei und seine diskret gelebte Homosexualität dürften sich auf den ersten Blick schlecht vertragen haben. Aber das alles passt durchaus ins Lebensschema dieses anpassungsfähigen Italieners.

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