Nachruf auf Gerd Albrecht : Was jeden packen und mitreißen muss
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Pionier auf vielen Gebieten: Der Dirigent Gerd Albrecht, hier bei einer Probe mit der Kölner Philharmonie in Leverkusen am 4. 2. 2002 Bild: picture-alliance / dpa
Im Alter von achtundsiebzig Jahren ist Gerd Albrecht in Berlin gestorben. Er war ein Pionier der Musikvermittlung. Auch als Dirigent setzte er starke Akzente für das Neue und bisher Unerhörte.
Vermitteln war seine Passion: Wann immer er sein Musikwissen und seine Begeisterung an andere Menschen weitergeben konnte, fand sich ein Podium für Gerd Albrecht. Wer erleben durfte, mit wie viel Geist und Witz er selbst schwierige oder auch unbekanntere Werke seinem Publikum nahebrachte, konnte auf den Gedanken kommen, dieser Dirigent sei eigentlich, quasi im Nebenberuf, ein Entertainer von höheren Gnaden.
In Wahrheit gehörten künstlerischer Ernst und pädagogischer Ehrgeiz – früher sagte man wohl „Eros“ dazu – für den umfassend gebildeten Albrecht unauflöslich zusammen. Er schmückte sich nicht mit „Education“-Programmen, wie sie heute längst Pflicht sind für alle klassischen Kulturinstitutionen, die gegen die mediale Konkurrenz bestehen wollen – Albrecht war vielmehr der wahre Pionier einer zeitgemäßen, niemals anbiedernd verharmlosenden, aber eben auch nie elitären Vermittlung von Musik.
Vorreiter in der Nachwuchsförderung
Der Impuls, große Werke nicht bloß zum Klingen, sondern auch zur Sprache zu bringen, war ihm eine Herzensangelegenheit, sie prägte bis zuletzt sein künstlerisches Wirken. Neben der Arbeit mit bedeutenden Profi-Orchestern in aller Welt stand deshalb immer gleichberechtigt das Engagement in der Bildungs- und Jugendarbeit. Albrecht war sich – unter namhaften Dirigenten früher durchaus keine Selbstverständlichkeit – nicht zu schade, mit Nachwuchsensembles wie den Bundes- und Landesjugendorchestern zu arbeiten, wo er in den lebhaften Diskurs mit jungen Musikern trat.
Und noch viel grundsätzlicher kümmerte sich Albrecht um den musikalischen Nachwuchs: Schon Ende der achtziger Jahre gründete er in Hamburg eine Jugendmusikstiftung, die sich seither nicht bloß kontinuierlich um die Förderung von Talenten verdient macht, sondern auch das „Klingende Museum“ trägt: eine Einrichtung, seit 2002 mit einer Dependance in Berlin sowie mobilen Ablegern in Frankfurt und anderswo, die Kinder spielerisch, und etliche wohl überhaupt zum ersten Mal, mit Musik und Musikinstrumenten in Berührung bringt. Durch Programme wie „Jedem Kind ein Instrument“ oder das venezolanische „El Sistema“ ist dieser Grundgedanke Gerd Albrechts auch anderswo zum Allgemeingut geworden. Ein Vorreiter war er in vielerlei Hinsicht. Der Erste zu sein ist eine Art Leitmotiv in seinem Leben gewesen. Das hat er in Gesprächen immer wieder selbstbewusst betont.
Pionier der Gesprächskonzerte
1935 in Essen geboren, wurde Gerd Albrecht nach Studienjahren in Kiel und Hamburg, unter anderem bei dem Dirigentenmacher Wilhelm Brückner-Rüggeberg, bereits 1963 Generalmusikdirektor in Lübeck – damals, mit achtundzwanzig Jahren, der jüngste GMD in Deutschland. Schon drei Jahre später wechselte Albrecht auf den gleichen Posten nach Kassel, wo er erstmals eine Reihe mit Gesprächskonzerten etabliert, die schnell überregional Aufsehen erregten. Sogar das Fernsehen interessiert sich bald für dieses neue Format. Ein Erfolgsrezept, das einfach, aber wirkungsvoll ist – und es bleibt, auch später, bei Albrechts Hamburger „Musikkontakten“ oder den „Wegen zur Neuen Musik“; kein Wunder, dass dieses Format heute von Dirigenten allüberall kopiert wird: Ein „Macher“ plaudert da aus der Praxis (und manchmal auch aus dem Nähkästchen), befragt Sänger, Solisten, Orchestermitglieder nach Besonderheiten, den „Angst“- oder den „Gänsehaut“-Stellen eines Stücks – und führt diese Musikstellen dann live dem Publikum vor. Gerd Albrecht wusste, dass Musik, ohne gedankliche Schranken präsentiert, einfach jeden packen und mitreißen muss.