Der Anglist Horst Meller ist tot : Ihn zu erleben hieß, der Literatur zu vertrauen
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Ein Dichtungsverteidiger, der seine Leser und Zuhörer zu fesseln wusste: Zum Tode des Heidelberger Anglisten Horst Meller.
Wer in den siebziger Jahren an die Universität Heidelberg ging, um Literatur zu studieren, hatte die Wahl zwischen Massenbetrieb und ihm: zwischen überfüllten Lehrveranstaltungen, wo im Sommer noch die Stehplätze in der Karlstraße, die durch die offenen Fenster in den Hörsaal des Germanistischen Instituts lauschen ließen, besetzt waren, und seinen Seminaren, auch Vorlesungen und Kolloquien bei den Anglisten, die im kleinen, überschaubaren Rahmen stattfanden. Nicht, dass er einen Numerus clausus verhängt hätte, dass verbot sich ihm schon aus politischen Gründen; nicht, dass er elitär gewesen, ganz im Gegenteil.

Freier Autor im Feuilleton.
Denn „demokratisch ist es“, da zitierte er gerne Brecht, „den ‚kleinen Kreis der Kenner‘ zu einem großen Kreis der Kenner zu machen“. Nur, die Literatur dafür zu „erleichtern“, das kam für Horst Meller nicht in Frage. In seinen intensiven, einladenden, da dialogisch offenen Einlassungen, die sich gerade auf die schwierigsten Texte richteten, verbanden sich eine skrupulöse, nachbohrende Genauigkeit und eine schier unerschöpfliche, liebenswürdige Geduld.
Lectio difficilior
Aber es lag auch und vielleicht zuerst an den Dichtern, die ihm dafür prädestiniert und die liebsten waren. Shakespeare, Dickens und Pinter hatten wir alle gelesen, doch wer hatte schon von Milton gehört, von Blake, Shelley und Coleridge? Die Lektüre des „Paradise Lost“ soll Meller zum Studium der Anglistik „überredet“ haben; dass der Satan und die Hölle darin die größere und schönere Literatur hergeben, hat ihn fasziniert und angeregt; den berühmten Satz von Blake verstand er als Schlüssel: „Milton war, ohne es zu wissen, ein Parteigänger des Teufels.“ In den Dichtungen der englischen Romantiker wie auch in den Illustrationen des anglisierten Schweizers John Fuseli, für die Satan der eigentliche Held des Epos ist, dechiffrierte Meller die literarische Subversion einer politischen Revolte, die er als überlegene „lectio difficilior“ den Lesarten des „main stream“ entgegensetzte.
Horst Meller, der am 25. August 1936, wenige Tage nach dem Ende der Olympischen Spiele, in Berlin geboren wurde und, davon pränatal immunisiert, jede Form von Propaganda, auch von Großspurigkeit und Wichtigtuerei ablehnte und ironisch unterlief, hatte an der Freien Universität studiert, von wo ihn sein Lehrer Rudolf Sühnel mit nach Heidelberg nahm. Mit ihm hat er 1966 die Anthologie „British and American Classical Poems“ herausgegeben, eine reiche, souverän sortierte Schatztruhe der Lyrik, die, kundig annotiert und illustriert, bis heute unerreicht ist.
In der Tradition der Dichtungsapologie
Die Vorstellung, dass sich Poesie und Theorie feindlich gegenüberstehen, hat er für ein (bequemes) Vorurteil gehalten und (nicht nur) in seiner Dissertation über einen Schriftsteller, der sich auf beides verstand, subtil widerlegt: William Empson, dessen Poetologie und Selbstverständnis „Das Gedicht als Einführung“ untersucht, ist auch nach und trotz dieser Studie der „aktuelle Geheimtipp“ geblieben, als den ihn Meller herausstellt.
In seiner Vorliebe für die Lyrik, die er als Königsdisziplin verstand und die sein pädagogisches Eros besonders anspornte, stellte sich Meller in jene angelsächsische Tradition der Dichtungsapologie, die von Philip Sidney über Shelley und Wordsworth bis zu Eliot, Pound und eben Empson reicht und für ihn auch von Enzensberger und Hilde Domin, der er freundschaftlich verbunden war, fortgeschrieben wird. Deren Hoffnung auf die Ansteckungskraft der Lyrik teilte er: „Dies ist unsere Freiheit/die richtigen Namen nennend/furchtlos/mit der kleinen Stimme.“
In einer verwalteten Welt, die von Konformismus und Apparaten bestimmt wird, formuliert die Poesie einen Widerstand der Individualität und des Eigensinns. Wer je das Glück hatte, diesem unprofessoralen Lehrer dabei zuzuhören, wie er, ausgehend von dem 116. Sonett, in einem multiperspektivischen Zugriff aus „close reading“ und kulturgeschichtlicher Tour d’horizon, kriminalistischem Spürsinn und Ideologiekritik, die bis heute strittige Frage nach Shakespeares Identität aufrollt, wird das weder vergessen noch je das Vertrauen in die Literatur verlieren können. Am Samstag ist Horst Meller sechsundsiebzigjährig in Heidelberg gestorben.