https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/wikimedia-plant-die-kommerzialisierung-ihrer-inhalte-17736141.html

Rechte an Gratis-Inhalten : Wikimedia pervertiert das Gemeinwohl

  • -Aktualisiert am

Mit Vorsicht zu genießen: An den Artikeln zur Pandemie bei Wikipedia arbeiten auch Corona-Leugner mit. Bild: dpa

Wikimedia plant die Kommerzialisierung ihrer Inhalte. Zugleich betreibt die Organisation heftiges Lobbying, um an hochwertige Gratis-Inhalte der öffentlich-rechtlichen Sender zu kommen. Das ruiniert die Filmschaffenden.

          4 Min.

          Die Informations-Plattform Wikipedia wurde bislang durch Spenden unter anderem von Tech-Giganten aus dem Silicon Valley finanziert. Darunter befinden sich vornehmlich die marktdominanten Internetriesen wie Google, Facebook, Apple et cetera, die allesamt durch Traffic mit Inhalten aus Wikipedia Geld verdienen. In Fachkreisen werden diese Spenden als Geschäft auf Gegenseitigkeit angesehen: Spender und Wikipedia profitieren voneinander.

          Wikimedia ist die Betreiberorganisation hinter Wikipedia, die allerdings seit Langem nach einem stabilen Geschäftsmodell zur Eigenfinanzierung sucht. Im Frühling 2021 hat Wikimedia schließlich angekündigt, eine Unternehmens-Schnittstelle aufzubauen, die die automatisierte Verwendung von Wikipedia-Content vereinfachen soll und wofür die kommerziellen Unternehmen bezahlen sollen. Also: Mit den Inhalten auf Wikipedia soll Geld verdient werden. Etwa dank Diensten wie den Sprachassistenten Siri oder Alexa, die über Wikipedia auf Inhalte zugreifen. Das oben beschriebene Spendengeschäft auf Gegenseitigkeit würde damit in eine ordentliche Geschäftsbeziehung umgewandelt werden. Der Name dafür: Wikimedia Enterprise API.

          Damit sich dieses Geschäft langfristig lohnt, muss Wikimedia das umfassende Angebot von Information auf Wikipedia sicherstellen, für die sozialen Netzwerke aber auch durch qualitativ hochwertige Bilder und Filme aufwerten. Erweitertes Angebot erhöht die Nachfrage. Und um sich die kapitalstarke Kundschaft auf lange Sicht zu sichern – so das Gesetz des Internetkapitalismus –, könnte Wikipedia im Sektor Bildung auch zur dominanten Plattform für möglichst gratis abrufbare Bilder und Filme werden.

          Staatsverachtung und Kollektivismus

          In diesem Zusammenhang ist auch die seit einigen Jahren anhaltende intensive Lobby-Kampagne von Wikimedia Deutschland für sogenannte „freie Lizenzen“ zu verstehen. Öffentlich-rechtliche Filme, vor allem Dokumentationen und Dokumentarfilme, sollen per CC-Lizenzierung (Creative-Commons-Lizenzen) kostenfrei auf Wikipedia angeboten werden. Viele kennen diese Kampagne unter der Formel „Öffentliches Geld = Öffentliches Gut“. Eine Vulgarisierung des Gemeinwohlgedankens, die den rechtlichen Status von Gütern abwertet, deren Herstellung durch staatliche Umverteilung beziehungsweise in öffentlich unterstützten Wirtschaftssegmenten wie der Film- und Fernsehbranche stattfindet. Der Claim ist Ausdruck einer zeittypischen Verquickung von libertärer Staatsverachtung und Kollektivismus-Idealen, die sich in diesem Fall recht schamlos hinter Gemeinwohl-Rhetorik und flimmernden Fantasien vom „freien Internet“ versteckt.

          Wikimedia hat sich in den letzten Jahren bei ihren Lobby-Aktivitäten rund um die Novellierung des europäischen Urheberrechts daher markante Abfuhren von den deutschen Produktions- und Urheberverbänden eingefangen. Bei den öffentlich-rechtlichen Sendern hingegen waren sie ein Stück weit erfolgreich: Auf intensives Betreiben von Wikimedia wurden in den letzten zwei Jahren Pilotversuche mit CC-lizenzierten Clips aus Produktionen der „Terra X“-Dokumentationsreihe (ZDF) unternommen. Und tatsächlich finden sich immer öfter im Kleingedruckten auch CC-Klauseln in einzelnen Terra-X-Produktionsverträgen. Das ist das Ergebnis von sogenannten „Runden Tischen“, an denen wohlgemerkt keine Vertretung der deutschen Produzentenlandschaft anwesend war. Wikimedia jedenfalls feiert heute ihre Statistiken, die Terra-X-Clips generieren ansehnliche Nutzerzahlen auf der Wikipedia-Seite.

          Die deutsche Film- und Fernsehbranche und alle schöpferisch Beteiligten reiben sich mittlerweile die Augen angesichts dessen, wie diese Rosstäuscherei nicht nur bei Senderverantwortlichen, sondern auch in medienpolitischen Kreisen verfängt. Sie alle haben es versäumt, die auf der Hand liegende Frage zu stellen: Warum benötigt Wikimedia überhaupt CC-lizenzierte öffentlich-rechtliche Inhalte? Wikimedia könnte auch ganz einfach eine Pauschallizenzierung mit den zuständigen Verwertungsgesellschaften wie der VG Bild-Kunst abschließen. Genauso wie das Schulen, Universitäten und Bibliotheken tun. Und genauso wie Wikimedia selbst Nutzungsverträge mit Google, Apple, Amazon oder Facebook für den erleichterten Zugang zu auf Wikipedia vorgehaltenen Inhalten abschließen will. Es wären alle rechtlichen Fragen leicht zu lösen. Und dank der Verwertungsgesellschaften, die die Interessen der Filmschaffenden vertreten, hätten auch Urheber und Leistungsschutzberechtigte ihren fairen beziehungsweise existenzsichernden Anteil an den Geldflüssen.

          Propaganda für „freie Lizenzen“

          Wikimedia hat das Angebot der VG Bild-Kunst, geschützte Werke zu lizenzieren, abgelehnt. Solange ihre Kampa­gne in Deutschland nicht komplett gescheitert ist, spekuliert die Organisation offenbar weiterhin auf CC-lizenzierte, hochwertige öffentlich-rechtliche Gratisware, für die sie eben keine Lizenzierungsverträge mit den Verwertungsgesellschaften abschließen muss, weil sie bereits CC-lizenziert ist. Ein gutes Geschäft für Wikimedia und die Internetriesen. Ein katastrophales für die Produktionslandschaft.

          Unbenommen. Die Selbstpublikation von Inhalten per Creative Commons auf fachspezifischen Plattformen oder in sozialen Medien ergibt durchaus Sinn für gewisse Inhalte wie akademische Publikationen oder auch NGO- oder Hobby-Filme. Professionelle Filmwerke hingegen stellen immer Bündelungen von gesetzlich garantierten Rechtsansprüchen für Drehbuch, Regie, Produktion, Kamera, Musik et cetera dar. Filme, die unter professionellen Marktbedingungen entstehen, eignen sich schlicht nicht für die vereinfachte Publikation per Creative-Commons-Lizenzierung.

          Wikimedia ignoriert diese Sachverhalte in ihrer anhaltenden Propaganda in Sachen „freie Lizenzen“ geflissentlich und wedelt die Kritik mit bunten Fähnchen weg, auf denen „Gemeinwohl“ steht. Im Eigeninteresse. Auf Kosten von uns Filmschaffenden, auf Kosten von Urhebern und Leistungsschutzberechtigten.

          Die deutsche Film- und Fernsehlandschaft steht aufgrund der wachsenden Bedeutung von Plattformen und der damit entstandenen Dynamiken im audiovisuellen Markt vor enormen Herausforderungen. Vielleicht wie noch nie zuvor. Es ist in dieser Zeit entscheidend, dass die politisch Verantwortlichen wie die öffentlich-rechtlichen Sender diese Herausforderungen im intensiven Dialog mit den Filmschaffenden als Chance nutzen, um die Produktionslandschaft in ihrer ganzen Vielfalt nachhaltig zu stärken. Noch besser, um sich in ihrer Kreativkraft besser entfalten zu lassen als zuvor.

          Was die Filmschaffenden dafür brauchen, sind stabile rechtliche Grundlagen und faire Marktstandards. Die Sticker mit der Vulgärformel „Öffentliches Geld = Öffentliches Gut“ stellen diese Grundlagen infrage. Sie sollten nun endgültig von den Windschutzscheiben der Medienpolitik in Deutschland gekratzt werden.

          David Bernet ist Dokumentarfilmer und Ko-Vorsitzender der AG DOK (Berufsverband der Dokumentarfilmschaffenden in Deutschland).

          Weitere Themen

          Beim NDR geht es hart zur Sache

          Betriebsklima untersucht : Beim NDR geht es hart zur Sache

          Der NDR hat einen „Klimabericht“ vorgelegt. Es geht nicht um die Erderwärmung, sondern das interne Klima. Und das ist angespannt bis zum Zerreißen. Doch es bestehe Hoffnung, sagt der Verfasser des Berichts.

          Topmeldungen

          Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Montag in der Knesset

          Justizreform vertagt : Netanjahus Notbremse

          Der Ministerpräsident hat Israel in eine beispiellose Selbstschwächung geführt. Ob er noch die Autorität hat, einen Kompromiss in der Justizreform durchzusetzen, ist fraglich.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.