„Ganz normale Männer“ im ZDF : Sie gewöhnten sich ans Massenmorden
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Die Täter prosten sich zu: Bei Musikabenden und Bier fühlten sich die Männer des Reservepolizei-Bataillons 101 zwischen den Massenerschießungen offenbar ganz wohl. Bild: ZDF und Staatsarchiv Hamburg
Die Dokumentation „Ganz normale Männer - der ,vergessene Holocaust’“ geht der Frage nach, wie durchschnittliche Menschen Täter wurden und sich in die NS-Todesmaschinerie einfügten. Die Erkenntnis ist bis heute aktuell.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stehen bei den Nürnberger Prozessen der Alliierten deutsche Kriegsverbrecher vor Gericht. Es sind Männer, die die Verbrechen angeordnet haben, nicht die Mörder vor Ort. Aber was ist mit denen, die die systematische Ermordung von Juden, die längst im Gang war, als bei der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 die sogenannte „Endlösung“ beschlossen wurde, mit eigener Hand ausgeführt haben? Die sechs Millionen Menschen töteten, von denen nicht alle in Gaskammern oder auf Todesmärschen umkamen?
Etwa zwei Millionen Menschen fielen systematischen Massenerschießungen zum Opfer, vor allem in Polen. Die meisten Täter, deutsche Polizisten und Soldaten mit „Sonderauftrag“, kamen nach dem Krieg als „ganz normale Männer“ unauffällig davon. Eine nationalsozialistische Einstellung hatten nur wenige. Anfang 1947 allerdings beginnt der junge amerikanische Jurist Benjamin Ferencz, der einzige noch lebende Chefankläger der Nürnberger Prozesse, mit seinem Ermittlungsteam mit einer erweiterten Spurensuche, nachdem sie in NS-Akten einen bedeutenden Fund gemacht hatten. Einen Stoß Papiere mit dem Titel „Ereignismeldung aus der UdSSR“. Es sind Todeslisten mobiler Mordkommandos, auf denen sich lange Kolonnen von Zahlen befinden. Nebst Daten und Orten. Zum Beispiel: „25. und 26.8.41, Seduva, 230 Juden, 275 Jüdinnen, 159 Judenkinder. 664“. Die Listen enthalten in aller menschenverachtenden Kürze eine Buchhaltung der „Einsatzgruppen“, der Polizeibataillone, die zur „Sicherung“ der eroberten Gebiete im Osten aus dem Reich entsandt wurden.
Zwei Millionen Menschen erschossen
Die Listen wurden als eine Art „Leistungsnachweis“ und „Effizienzbeglaubigung“ verschickt. Nachdem Ferencz, so berichtet es der über Hundertjährige in der ZDF-Dokumentation „Ganz normale Männer“, eine Million Opfer gezählt hatte, plädierte er bei seinem Vorgesetzten dafür, auch die Männer der mobilen Mordkommandos vor Gericht zu stellen. Er wurde Chefankläger in den Nürnberger „Einsatzgruppen-Prozessen“. Im Film sieht man ihn in der historischen Aufnahme, einen zierlichen Mann mit fester Stimme und bescheidenem Auftreten. Wer die Männer waren, die in den Polizeibataillonen „Dienst“ taten, wer ihre Vorgesetzten, welche Anschauungen sie vertraten, wie sie agierten und wie sich die Angeklagten später verteidigten, alles das ist, vor allem im Fall des Hamburger Polizeibataillons 101, gut belegt.
Wie konnten aus – unter anderen – Hamburger Bäckern und Handwerkern im mittleren Alter Täter werden, die bei der ersten Gruppenerschießung noch mit jedem Opfer einzeln in den Wald gingen (was zu schweren Traumata bei einigen der Männer führte, wie ihre Vorgesetzten kritisch anmerkten) und sich erbrachen, aber später, nach teambildenden Abenden mit Musik, Gesang und Alkohol, mutmaßlich ohne Skrupel Babys an den Brüsten der Mütter erschossen (eine für zwei – so konnte man eine Kugel sparen)? Der Film „Ganz normale Männer“ stellt die individual- und gruppenpsychologischen Mechanismen, das Agieren der Führungsebene, die Gruppenbildungsprozesse und Ereignisse mit der richtigen Balance dar aus Sachlichkeit und Haltung, Chronologie und erhellender Einordnung in zahlreichen Dokumenten, Archivfotos und -filmen, Spielszenen mit Kommentaren von Experten und den persönlichen Rekonstruktionen von Benjamin Ferencz, einem der späteren Väter des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Wie ein roter Faden zieht sich eine Erkenntnis durch den Film. Die Erkenntnis, dass die Männer der Polizeibataillone sich hätten weigern können, Menschen zu erschießen. Einige taten das, niemand hatte ernsthafte Konsequenzen zu fürchten. Außer sozialer Ausgrenzung – oder der Abordnung zum Latrinenausheben oder Kartoffelschälen. Und der Konsequenz, ein „Kameradenschwein“ zu sein. Sehr wenige nahmen das in Kauf. Freilich, so macht es der Film auch deutlich, nicht aus grundsätzlicher Opposition oder Mitleid – außer mit sich selbst. Dass die Täter sich auch später selbst als Opfer sahen, ist eine gut erforschte, erschütternde Tatsache der Basis der jungen Bundesrepublik. Der Film „Ganz normale Männer“, für ein allgemeines Publikum gestaltet, leistet hier einen wichtigen Beitrag zur immer noch aktuellen Aufklärung über Antisemitismus und Ausgrenzung. Man wünscht ihm eine breite Rezeption. Man musste nicht mitmachen, selbst als Angehöriger eines Mordkommandos.
Ganz normale Männer - Der „vergessene Holocaust“ läuft um 20.35 Uhr im ZDF.