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Webarchäologie : Als hätte man Pferde vor Autos gespannt

  • -Aktualisiert am

Digitaler Ureinwohner: Vor einer Wand aus Avataren wird die Geschichte der DS erzählt. Bild: Lea Beiermann

Ausgrabungen im Internet: Die Webarchäologie bemüht sich darum, digitale Artefakte aufzuspüren und zu bewahren. In Amsterdam wird eine ganze Stadt rekonstruiert.

          4 Min.

          Selfies sind im Netz allgegenwärtig, Drohnenvideos schwer im Kommen, und auch die ein oder andere Grumpy Cat begegnet einem noch.  Doch was ist aus dem Harlem Shake geworden? Erinnert sich noch jemand an das Planking? An die Geysire aus Mentos in Cola light? Netzphänomene sind flüchtig, nur hin und wieder wird Material viral, das schon vergessen schien.

          „Viele glauben, das Internet sei erst militärisch eingesetzt worden, dann von Wissenschaftlern im akademischen Umfeld, danach habe es die e-commerce Welle gegeben und schließlich sei das soziale Web 2.0 entstanden. In Wirklichkeit aber war das Netz von Beginn an sozial“, sagt Marleen Stikker, die Vorsitzende der Amsterdamer de Waag Society, eine interdisziplinäre Einrichtung an der Schnittstelle zwischen Technik und Kunst. Mit ihrem Fablab bietet die Society eine offene Werkstatt an, in der heute Kinder im Grundschulalter umherlaufen und, sagt Marleen Stikker im Nebensatz, ihre ersten Computer bauen. In angrenzenden Räumen arbeiten Jugendliche mit 3D-Druckern und Lasercuttern, auf einem Tisch liegt eine Modekollektion aus einer Art Spitze, die nicht geklöppelt, sondern mit Laser geschnitten wurde.

          Wenn sich ein immer größerer Teil des Lebens im virtuellen Raum abspielt, sagt die Amsterdamer Webexpertin, dann entstehe dort parallel zur analogen Welt eine Kultur mit eigener Geschichte. Bilder und Texte, die ursprünglich Teil eines Hypes waren, werden zu Artefakten einer Epoche. Schon anhand der Pixelgröße lassen sich Bilder heute Zeiträumen zuordnen, fast so, als würde man den Pinselduktus eines Gemäldes analysieren.

          Lesegeräte aus dem Computermuseum

          Marleen Stikker ist außerdem Gründerin der ersten Digitalen Stadt, die hauptverantwortliche „Architektin“. Seit 1994, mit Amsterdam als Vorreiter, wurden in den Neunzigern allerorten Digitale Städte gegründet, die niedrigschwelligen Internetzugang ermöglichten. Im Grunde,  sagt die virtuelle Stadtplanerin, habe man das Netz nur um ein erstes Interface ergänzt, eine Art Desktop, der keine Eingabe kryptischer Codes erforderte, sondern die analoge, für jeden verständliche Alltagswelt ins Netz übertrug. Im „Postkantoor“, dem Postamt, wurden Mails verschickt, Homepages wurden durch kleine Häuser repräsentiert – und eine virtuelle Nachbarschaft begründet, in der sogar Echtzeit-Chats möglich waren.

          Tjarda de Haan dagegen ist keine Architektin, sondern Webarchäologin. Wenn sie von ihren digitalen Ausgrabungen erzählt, macht sie dabei Schaufelbewegungen, als würde sie einen Spaten in den Händen halten. Gemeinsam mit Marleen Stikker und einem ganzen Team freiwilliger Helfer rekonstruiert Tjarda de Haan DDS – „De Digitale Stad“. Sie möchte die Urform aller sozialen Netzwerke wiederherstellen, vielleicht sogar nutzbar machen. Tjarda de Haan ist außerdem die erste e-Kuratorin des Amsterdamer Museums. Das Museum für Stadtgeschichte wurde durch sie bereits um eine Wand aus bunten, pixeligen Avataren und einen flimmernden PC-Bildschirm ergänzt, der die Geschichte der Digitalen Stadt erzählt.

          „Historische Museen fangen an, Dinge zu sammeln, wenn sie alt sind. Das kann man aber nur tun, wenn die alten Dinge noch vorhanden sind. Digitale Artefakte dagegen verschwinden häufig einfach“, sagt Marleen Stikker. Die Digitale Stadt verschwand mit der Entstehung des e-commerce. Als das Netz vielen nur noch als Goldesel erschien, schwand das Interesse an Projekten wie der Digitalen Stadt. Sie platzte noch vor der Internetblase. Übrig blieb nur ein „Freeze“, ein Backup, das man 1996 vorgenommen hatte. Auf drei Tapes mit den etwa hundertfachen Ausmaßen eines USB-Sticks befand sich die Digitale Stadt von 1996, eine Art dreidimensionaler Screenshot, der in den Nullerjahren kaum mehr auszulesen war. Nur im Amsterdamer Computermuseum fanden sich schließlich doch noch funktionierende Lesegeräte – seitdem wird „De Digitale Stad“ rekonstruiert.

          Seiten statt Räume

          Die Ausgrabung der DS sei ein „Slow-Data-Projekt“, sagt Tjarda de Haan und lacht. Seit 2004 wird an der Rekonstruktion gearbeitet. Hilfreich ist dabei nicht nur der Freeze, sondern auch die Wayback Machine, die Internetseiten archiviert, wenn auch nicht so umfangreich, wie es die Archäologen gern hätten. Von der DS gibt es nur wenige Screenshots. Doch ehemalige digitale Bewohner steuern ebenfalls Material bei – und Erinnerungen an den Aufbau der Stadt. Viele von ihnen kommen auch zur Einweihungsfeier des flimmernden PCs im Amsterdamer Museum. Es sind Netzpioniere der ersten Stunde, deren nerdige Haarpracht teils ergraut, aber immer noch beeindruckend ist, und die von Übernachtungen neben PCs, Kabeln und Modems erzählen. Das Material war zu teuer, um es nachts unbewacht zu lassen und außerdem in einem rudimentären Raum untergebracht, der sich nicht abschließen ließ. 

          „Mit dem Siegeszug des World Wide Web hatte die Metapher der Cybercity zunächst ausgedient“, sagt Marleen Stikker. Statt von Räumen war nun von Seiten die Rede, als sei das Internet nur eine Fortschreibung des klassischen Buchs. Als der Begriff der Seiten aufkam, schien es ihr so, „als hätte man Pferde vor Autos gespannt“. Der dreidimensionale Cyberspace, der für Netzpioniere zunächst auch eine physische Komponente besaß – mit dem scheinbar beseelten Blinken und Piepen der ersten Geräte, dem Warten auf eine stabile Verbindung – wurde auf zweidimensionale Seiten gezwängt. Marleen Stikker war enttäuscht.

          Ehrentapete für die Ureinwohner

          „Wie das Internet in Zukunft aussehen wird, können wir uns noch nicht vorstellen“, sagt sie und versucht es dann doch. „Das Netz wird durch Videospiele wieder räumlicher, und das Internet der Dinge wird mit unserem Körper interagieren, das Netz wird überall sein.“ Die Grenze zwischen Mensch und Web verschwimmt. Und sollte man nicht wissen, was es ist, das von einem Besitz ergreift? Die Webarchäologie versuche herauszufinden, sagt Marleen Stikker, wie das Netz funktioniert, durch welche Prozesse Innovationen und Erfindungen entstehen.

          Manchmal werden die Archäologen von Nostalgie getragen, aber nicht nur. Es gehe auch darum, durch die Analyse von Entwicklungen im Netz Vorhersagen über die Zukunft zu treffen, und Behauptungen zu widerlegen. Etwa die, das Web 2.0 sei ein völlig neues Phänomen gewesen. Denn schon die Digitale Stadt bestand aus nutzergenerierten Inhalten.

          Jeder Bewohner der DS erhielt einen personalisierten Avatar mit individuellen Farben und Gesichtszügen. Die Wand mit diesen bunten Gesichtern im Amsterdamer Museum scheint eine Gedenktafel zu sein – eine Ehrentapete für die Ureinwohner der Digitalen Stadt, die das Netz lange vor Facebook und Co. zu einem sozialen, interaktiven Ort machten.

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