Webarchäologie : Als hätte man Pferde vor Autos gespannt
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Digitaler Ureinwohner: Vor einer Wand aus Avataren wird die Geschichte der DS erzählt. Bild: Lea Beiermann
Ausgrabungen im Internet: Die Webarchäologie bemüht sich darum, digitale Artefakte aufzuspüren und zu bewahren. In Amsterdam wird eine ganze Stadt rekonstruiert.
Selfies sind im Netz allgegenwärtig, Drohnenvideos schwer im Kommen, und auch die ein oder andere Grumpy Cat begegnet einem noch. Doch was ist aus dem Harlem Shake geworden? Erinnert sich noch jemand an das Planking? An die Geysire aus Mentos in Cola light? Netzphänomene sind flüchtig, nur hin und wieder wird Material viral, das schon vergessen schien.
„Viele glauben, das Internet sei erst militärisch eingesetzt worden, dann von Wissenschaftlern im akademischen Umfeld, danach habe es die e-commerce Welle gegeben und schließlich sei das soziale Web 2.0 entstanden. In Wirklichkeit aber war das Netz von Beginn an sozial“, sagt Marleen Stikker, die Vorsitzende der Amsterdamer de Waag Society, eine interdisziplinäre Einrichtung an der Schnittstelle zwischen Technik und Kunst. Mit ihrem Fablab bietet die Society eine offene Werkstatt an, in der heute Kinder im Grundschulalter umherlaufen und, sagt Marleen Stikker im Nebensatz, ihre ersten Computer bauen. In angrenzenden Räumen arbeiten Jugendliche mit 3D-Druckern und Lasercuttern, auf einem Tisch liegt eine Modekollektion aus einer Art Spitze, die nicht geklöppelt, sondern mit Laser geschnitten wurde.
Wenn sich ein immer größerer Teil des Lebens im virtuellen Raum abspielt, sagt die Amsterdamer Webexpertin, dann entstehe dort parallel zur analogen Welt eine Kultur mit eigener Geschichte. Bilder und Texte, die ursprünglich Teil eines Hypes waren, werden zu Artefakten einer Epoche. Schon anhand der Pixelgröße lassen sich Bilder heute Zeiträumen zuordnen, fast so, als würde man den Pinselduktus eines Gemäldes analysieren.
Lesegeräte aus dem Computermuseum
Marleen Stikker ist außerdem Gründerin der ersten Digitalen Stadt, die hauptverantwortliche „Architektin“. Seit 1994, mit Amsterdam als Vorreiter, wurden in den Neunzigern allerorten Digitale Städte gegründet, die niedrigschwelligen Internetzugang ermöglichten. Im Grunde, sagt die virtuelle Stadtplanerin, habe man das Netz nur um ein erstes Interface ergänzt, eine Art Desktop, der keine Eingabe kryptischer Codes erforderte, sondern die analoge, für jeden verständliche Alltagswelt ins Netz übertrug. Im „Postkantoor“, dem Postamt, wurden Mails verschickt, Homepages wurden durch kleine Häuser repräsentiert – und eine virtuelle Nachbarschaft begründet, in der sogar Echtzeit-Chats möglich waren.
Tjarda de Haan dagegen ist keine Architektin, sondern Webarchäologin. Wenn sie von ihren digitalen Ausgrabungen erzählt, macht sie dabei Schaufelbewegungen, als würde sie einen Spaten in den Händen halten. Gemeinsam mit Marleen Stikker und einem ganzen Team freiwilliger Helfer rekonstruiert Tjarda de Haan DDS – „De Digitale Stad“. Sie möchte die Urform aller sozialen Netzwerke wiederherstellen, vielleicht sogar nutzbar machen. Tjarda de Haan ist außerdem die erste e-Kuratorin des Amsterdamer Museums. Das Museum für Stadtgeschichte wurde durch sie bereits um eine Wand aus bunten, pixeligen Avataren und einen flimmernden PC-Bildschirm ergänzt, der die Geschichte der Digitalen Stadt erzählt.