Bernd Ulrich : Er konnte heimkehren, andere nicht.
- Aktualisiert am
Der Vater von Bernd Ulrich musste als Schreibstubengefreiter in Frankreich davon erfahren, wie seine alten Schulkameraden der Reihe nach an der Ostfront starben. Bald geriet er selbst in Kriegsgefangenschaft.
1933 war mein Vater gerade mal zehn Jahre alt, da hörte er in einer öffentlichen Radioübertragung von der Machtübernahme durch Hitler. Es war das Jahr, in dem er von der Volksschule zum Gymnasium wechselte. Geboren und aufgewachsen ist er in einer Kleinstadt am Rande des Thüringer Waldes. Durch den frühen Tod seines Vaters, also meines Opas, ist er bereits im Alter von vier Jahren Halbwaise geworden. Seine Mutter hatte es nicht leicht, mit einer kleinen Witwenpension sich und ihr einziges Kind durch die Not der Weltwirtschaftskrise zu bringen. In Heimarbeit nähte sie Puppenkleider, um sich damit ein paar Groschen hinzuzuverdienen und ihrem Sohn den Besuch der höheren Schule zu ermöglichen.
Aber auch andere hatten es schwer: Da gab es Klassenkameraden in der Volksschule, die auch im Winter barfuß in die Schule kamen. Die Eltern hatten schlichtweg kein Geld für Schuhe. Im Frühjahr 1941 machte mein Vater das Abitur. Alle Mitschüler hatten sich freiwillig zum Militär gemeldet, um im guten Glauben und patriotischer Überzeugung fürs Vaterland in den Krieg zu ziehen.
Brutaler Schliff
So auch mein Vater. Er kam zur Kavallerie, zu dem traditionsreichen Reiterregiment 7, den „Bamberger Reitern“, die sich vornehmlich aus dem höheren und niederen Adel rekrutierten. So waren Stauffenberg und Guttenberg Regimentskameraden; mit dem Prinzen von Thurn- und Taxis und anderen blaublütigen Rekruten teilte er sich die Stube.
Es hatte seinen Grund, dass sich ausgerechnet mein Vater als Sohn eines Zollsekretärs in diesem Adelsnest wiederfand: Bei der Hitlerjugend hatte er das goldene Reiterabzeichen absolviert. Bei der Wehrmacht wurden ihm indessen Lust und Freude am Reiten gründlich ausgetrieben. Als Rekruten wurden sie beim Ausreiten im Gelände brutal bis zur totalen Erschöpfung geschliffen. Die jungen Kriegsfreiwilligen kühlten ihre wundgescheuerten Hintern abends unter fließend kaltem Wasser in der Waschkaue um die Schmerzen zu lindern. Anschließend gab es Stalldienst und Stallwache. Nach dem Krieg hat sich mein Vater nie wieder in den Sattel gesetzt.
Im Zweifel nicht kriegsfähig
Nach der Grundausbildung kam wiederum eine ärztliche Untersuchung. Mein Vater war seit frühester Jugend auf einem Auge blind und auf dem anderen stark sehbehindert. Bei der Musterung hatte das niemanden gestört. Aber jetzt fragte der Sanitätsarzt ungläubig: „Sie wollen kriegsverwendungsfähig sein?“ Mein Vater fiel aus allen Wolken. Er hatte sich freiwillig gemeldet; er träumte von der Offizierslaufbahn. Und noch einmal fragte der Arzt: „Wollen Sie wirklich k.v. sein? Überlegen Sie sich das gut!“
Es war der Spätherbst 1941. Der deutsche Vormarsch in Russland war im früh einsetzenden Winter steckengeblieben. Die Verluste an Menschenleben stiegen täglich. Es waren diese Gedanken, die meinem Vater durch den Kopf gingen, als er antwortete: „Schreiben Sie, was Sie für richtig halten.“ Und so lautete der Befund: Nicht k.v. Der Regimentskommandeur war empört: Er attestierte: „Charakterlich minderwertig“. Damit war mein Vater von jeder künftigen Beförderung ausgeschlossen.
Einer nach dem anderen starb
Er blieb natürlich weiter Soldat. Der Marschbefehl nach Russland blieb ihm erspart. Sein Einsatzgebiet war Frankreich, seine Verwendung die eines Schreibstubengefreiten. Von seinen alten Schulkameraden kamen immer mehr schlechte Nachrichten: Einer nach dem anderen fiel auf dem Feld der Ehre. Sein bester Freund verbrannte in einem Panzer. Insgesamt hat von seiner Klasse nur eine Handvoll den Krieg überlebt.