„Frankreich von unten“ : Erzähl mir, wie dein Leben ist
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Bei ihr kommt Frankreich zu Wort: Sonia Kronlund Bild: Getty
In dem Podcast „Les Pieds sur terre“ gibt Sonia Kronlund dem „Frankreich von unten“ eine Stimme. Als sie vor zwanzig Jahren damit bei France Culture begann, erschien das unerhört. Und heute?
Am 21. April 2002 qualifizierte sich der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen für die Stichrunde der französischen Präsidentschaftswahlen. Für das politische und gesellschaftliche Establishment war das ein Schock. „Plötzlich nahm das ‚Frankreich von oben‘ das ‚Frankreich von unten‘ wahr“, sagt die Radioproduzentin Sonia Kronlund. Der Begriff „France d’en bas“ fand im Gefolge des April-Bebens weite Verbreitung. Und das war die Geburtsstunde für Kronlunds außergewöhnliches Radioprojekt.
3400 Beiträge in 20 Jahren
„Auch die Direktion von France Culture fragte sich, wer diese obskuren ‚kleinen Leute‘ waren, die für Le Pen gestimmt hatten. So erhielt ich innerhalb von fünf Minuten grünes Licht für mein Projekt, Unbekannten großzügig die Sendezeit zu gewähren, die ihnen die etablierten Medien sonst nur so knauserig zugestanden.“ Am 2. September 2002 wurde „Les Pieds sur terre“ erstmals ausgestrahlt, seitdem sind fast 3400 Beiträge entstanden.
In den ersten Jahren erfüllte die Sendung Kronlunds Programm auf den Punkt genau. „Les Pieds sur terre“ ließ Lumpensammler, Kleptomaninnen, Gefängniswärter, Callcenteragentinnen und Handlungsreisende für Alkoholhersteller zu Wort kommen. Zwei Kernsujets waren – und sind bis heute – Arbeitskämpfe und Prostitution. Letzterer Themenkomplex veranschaulicht die Vielfalt der Ansätze: Neben schillernden Callgirls wurden auch Escortherren befragt, chinesische Sexarbeiterinnen in Belleville, ein Händler, der Stricherinnen mit Kondomen und anderen Hygieneprodukten belieferte, ein reuiger Neunzehnjähriger, der aus Geldgier und Gedankenlosigkeit Zuhälter geworden war.
Auch vor 2002 hatten sich Radiosendungen vereinzelt schon für Vertreter des „Frankreichs von unten“ interessiert. Doch deren kurze O-Töne bildeten meist bloß den Ausgangsstoff für lange Analysen von Soziologen, Psychologen und anderen „Wissenden“. „Les Pieds sur terre“ hingegen verzichtet konsequent auf Kommentare und schneidet selbst die Fragen der Interviewer fast stets heraus. Einzig im Vorspann stellt die 46 Jahre alte Sonia Kronlund, die Philosophie und Literatur studiert hat und neben ihrem Radioprogramm als Drehbuchautorin und Dokumentarfilmerin arbeitet, die nachfolgenden ungefilterten Worte in einen breiteren Kontext.
Viel mehr als „Das Elend der Welt“
In den Anfangsjahren wurde „Les Pieds sur terre“ bisweilen dafür bespöttelt, das Elend der Welt in Hörform zu fassen – eine Anspielung auf den Titel des 1993 erschienenen, berühmten Interviewbands „La misère du monde“ von Pierre Bourdieu über Formen des alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Inzwischen ist Kronlunds Themenpalette nicht nur heller, sondern auch breiter geworden. Die Sendung lässt nunmehr auch Großbürger, Schlossherrinnen, Unternehmenschefs und Elitestudenten zu Wort kommen. Vom „Frankreich von unten“ hat sich der Blick auf das Frankreich der Unbekannten geweitet, ganz gleich, wie „hoch“ oder „niedrig“ diese gestellt sind. Gelegentlich ergreifen die Autoren der Beiträge, hoch motivierte, unterbezahlte Freischaffende, auch selbst das Wort, in drei-, zehn- oder vierundzwanzigteiligen Serien: Clément Baudet legt fürs Radio das Tagebuch eines Samenspenders vor, Adila Bennedjaï-Zou lässt ihr Publikum an der Suche nach dem oder den Mördern ihres 1975 erdrosselten Vaters teilnehmen, Inès Léraud macht die Zuhörer zu Zeugen ihrer Investigationen über die bretonische Agrarindustrie.
Umweltschutz ist, noch vor #MeToo und dem Raubbau an Frankreichs Gesundheitssystem, eines der neuen Kernthemen der in Form von Podcasts monatlich weit über vier Millionen Mal heruntergeladenen Sendung – gern auch mit „konstruktiven“ Beiträgen über erfüllte Ökobauern, stolze Whistleblower, Naturkinder und neue Robinsons. Auch in erzählerischer Hinsicht hat sich „Les Pieds sur terre“ weiterentwickelt: Statt beschreibender Bestandsaufnahmen findet man heute „gute Geschichten mit Bezug zu sozialen oder politischen Fragen, die die Zuhörer betreffen und berühren“, wie Sonia Kronlund im Gespräch sagt. Erklärtes Vorbild ist der Podcast „This American Life“ von Ira Glass.
„Les Pieds sur terre“ kann als linksprogressiv engagiert bezeichnet werden. Man findet darin Klassenkämpferisches – die Gelbwestenbewegung wurde und wird ebenso erschöpfend wie findig abgedeckt –, Feministisches, Schwulenfreundliches und Antirassistisches, dazu nuancierte Plädoyers für künstliche Befruchtung oder Sterbehilfe. Dass sich, so Kronlund, noch nie ein Politiker über die durch einen Staatssender produzierte Sendung beschwert hat, liegt vermutlich auch daran, dass Überzeugungen darin nicht propagiert, sondern lediglich suggeriert werden.
Ein Beitrag wie „Ginette et Loulou“ veranschaulicht die Komplexität, um die sich „Les Pieds sur terre“ bemüht. Eine herzige Rentnerin geht da auf einem Provinzmarkt einkaufen, ein lebensfrohes Lächeln auf den Lippen – bevor die Stimmung bei der Erwähnung des Algerienkriegs brutal umkippt und Ginette sich in einen mörderischen Furor hineinsteigert: „Die da“ müsste man alle im Meer ersäufen oder auf dem elektrischen Stuhl frittieren, „die da“ würde Le Pen samt und sonders töten, käme er an die Macht.
„Les Pieds sur terre“ besitzt noch eine weitere Dimension. Die Sendung quillt über von dem, was die Surrealisten das „Wunderbare im Alltäglichen“ nannten. Auch in düsteren Beiträgen blitzt oft etwas Fremdartig-Verzaubertes auf: Ein Rapper reitet durch die betonierte Banlieue; ein körperbehindertes Mädchen lernt dank einer Schnecke gehen; ein Vogelstimmen-Imitator gesteht halblaut sein Sehnen, mit einem Menschenweibchen ein Nest zu bauen. Hält man das Mikrofon nah hin, bleibt still und hört geduldig zu, entpuppen sich die Menschen hier als Wunderwesen, gewöhnliche Leute als verkappte Genies und Durchschnittsbürger als Unika.
Den Podcast Le Pieds sur terre findet man im Netz unter https://www.radiofrance.fr/franceculture/podcasts/les-pieds-sur-terre.