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TV-Kritik „Hart aber fair“ : Volksentscheide gegen abgehobene Politiker?

  • -Aktualisiert am

Markus Söder nimmt bei Frank Plasberg eine überraschende Position ein und streckt die Hand aus zu mehr Mitbestimmung der Bürger. Bild: WDR/Dirk Borm

Immer mehr Bürger wollen mitbestimmen, auch jenseits von Bundestagswahlen. Sind Volksentscheide eine „Prämie für Demagogen“ oder Schutz gegen abgehobene Berufspolitiker? Bei Frank Plasberg überraschen die Gäste mit ungeahnten Positionen.

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          In der Sendung von Frank Plasberg war diesmal viel von Stimmungen die Rede, die zu Stimmen werden können. Es ging um „Volksabstimmungen für alle“ und die Frage, ob „Bürger die besseren Politiker“ wären. Frühere Befürworter von plebiszitären Elementen im Grundgesetz formulierten ihre Skepsis, wie etwa der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki. Wie sehr sich die Stimmung verändert hat, zeigt aber vor allem der Vergleich zu früheren Jahrzehnten.

          So wurde schon in der Verfassungsdebatte nach der Herstellung der deutschen Einheit darüber diskutiert. Damals waren die Frontlinien eindeutig: Sozialdemokraten und Grüne befürworteten Volksabstimmungen. Vor allem die Christdemokraten lehnten die Einführung direktdemokratischer Elemente im Grundgesetz ab. Die Gegner orientierten sich dabei immer an einer Aussage des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Volksabstimmungen wären in Massendemokratien eine „Prämie für Demagogen“.

          „Gute und schlechte Volksabstimmungen“

          An dieser Argumentation der Gegner hat sich wenig geändert. Nur die Akteure wechselten. Zwar lehnt die CDU immer noch die Einführung von Volksabstimmungen auf nationaler Ebene ab, aber der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) erwies sich als ein leidenschaftlicher Verfechter der Gegenposition. Er traf auf Bettina Gaus. Journalistin der Berliner Tageszeitung „taz“, die zusammen mit Kubicki die früher konservativ genannte Position einer Verteidigerin der repräsentativen Demokratie übernahm. Dieser Rollenwechsel kam der Diskussion zugute. Er ersparte dem Zuschauer frühere Reflexe.

          Eine Methode demokratischer Entscheidungsprozesse ist nämlich keineswegs mit dem Wunsch nach einer anderen Politik zu verwechseln. Sie ist unabhängig davon zu beurteilen, ob bei Volksabstimmungen „gute oder falsche Entscheidungen“ getroffen werden, wie es Frau Gaus formulierte. Allein bei Claudine Nierth, Sprecherin des Vereins „Mehr Demokratie“, war bisweilen noch etwas von der Rousseauschen Sicht auf den Volkswillen zu finden, der schon die richtigen Entscheidungen treffen wird.

          Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt steht sicherlich nicht im Verdacht, sich an Rousseaus Demokratievorstellungen zu orientieren. Er argumentierte vielmehr funktionalistisch. Elemente direkter Demokratie betrachtete er als ein Mittel gegen die „Abgehobenheit der politischen Klasse“. Sie eröffneten dem Bürger die Möglichkeit zur politischen Intervention, auch unabhängig von Bundestagswahlen. Dabei differenzierte er zwischen „guten und schlechten Volksabstimmungen“. Schlecht sind solche Referenden, die Regierungen lediglich als politisches Legitmationsmittel nutzen wollen. Das ungarische Referendum über die EU-Flüchtlingspolitik gehört genauso dazu, wie die vom früheren britischen Premierminister David Cameron angesetzte Abstimmung über den Verbleib seines Landes in der EU.

          Gut sind dagegen in Patzelts Perspektive solche Volksabstimmungen, die aus der Mitte des Volkes kommen. Sie beleben den politischen Prozess, weil sie die Repräsentationsdefizite des Parteiensystems bei umstrittenen Themen korrigieren, so sein Argument. Er nannte als Beispiel die Flüchtlingskrise. Im Bundestag hätte es eine Allparteienkoalition gegeben, die aber die innenpolitische Diskussion nicht mehr repräsentierte. Volksbegehren könnten hier als Korrektiv wirken. Das Argument ihrer Anfälligkeit für populistische Stimmungen ließ Patzelt nicht gelten. Vielmehr könnte es den derzeitigen Trend zur Destabilisierung des Parteiensystems sogar entgegen wirken.

          CSU am „rechten Rand“?

          Frank Plasberg machte am Beispiel der Schweiz den Praxistest für Patzelts Thesen. Der Schweizer Politikwissenschaftler Michael Hermann berichtete über die dortigen Erfahrungen mit der direkten Demokratie. Immerhin fehlte dabei nicht der Hinweis auf die Schweizer Konkordanzdemokratie, wo das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition im Jahr 1943 abgeschafft worden ist. Die Volksabstimmungen sind damit zum wesentlichen Element politischer Entscheidungsfindung geworden. Das prägt die politische Kultur des Landes. Den Vorschlag, dieses Schweizer Modell einer immerwährenden Allparteienregierung auch für den Bundestag zu übernehmen, hört man in der deutschen Debatte nie.

          Hermann teilte daher auch nicht den Optimismus der Befürworter von mehr direkter Demokratie in Deutschland. Davon profitierten allein die AfD, die Linke und die CSU, so Hermann. Sie könnten nur auf diese Weise „Mehrheiten für eine Politik erzielen, die es auf parlamentarischen Wege nicht gibt.“ Söder war über diese Einordnung nicht gerade erfreut. Schließlich hatte Plasberg noch die Bemerkung vom „rechten und linken Rand“ gemacht, wo sich der bayerische Finanzminister gerade nicht verortet sehen will.

          „Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“ - Frank Plasberg erinnert an die Unterschriftensammlung von Roland Koch im hessischen Landtagswahlkampf von 1999.
          „Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“ - Frank Plasberg erinnert an die Unterschriftensammlung von Roland Koch im hessischen Landtagswahlkampf von 1999. : Bild: WDR/Dirk Borm

          Aber dahinter wurde ein grundsätzliches Problem erkennbar. Volksabstimmungen sind in gleicher Weise wie die Parteiendemokratie der politischen Instrumentalisierung ausgesetzt. Sie sind kein idealistischer Traum von der Volksherrschaft, sondern den taktischen Finessen und strategischen Überlegungen handelnder Akteure ausgesetzt. Plasberg brachte als Beispiel die Unterschriftensammlung von Roland Koch (CDU) im hessischen Landtagswahlkampf von 1999. Es ging zwar um die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Aber zum eigentlichen Thema wurde schließlich die Frage, wo man „gegen Ausländer unterschreiben konnte“, woran Plasberg mit einem Einspieler erinnerte. Die Annahme von Frau Nierth, ein solches Volksbegehren wäre beim Bundesverfassungsgericht gescheitert, ist allerdings falsch. Deren Einführung oder Abschaffung steht in der Disposition des Gesetzgebers, wie unter anderem Söder deutlich machte. Aber eine Abstimmung darüber kann auch als Symbol genutzt werden, um gegen Ausländer Stimmung zu machen. Das hat zweifellos Auswirkungen auf die politische Atmosphäre eines Landes. Sie wird konfrontativer und verringert damit zugleich den Spielraum zur politischen Kompromissbildung.

          Das widerspricht nicht den gestern Abend von den Befürwortern genannten Argumenten zugunsten plebiszitärer Elemente im Grundgesetz. Frau Nierth wies auf den deutschen Sonderfall hin, der der politischen Praxis in fast allen anderen europäischen Ländern widerspricht. Söder konnte auch dem klassischen Nachkriegsargument nichts mehr abgewinnen, den Deutschen einen  verantwortungsvollen Umgang mit diesem Instrument immer noch nicht zuzutrauen. Gleiches galt für den Einwand, Volksabstimmungen wären anfällig für irrationale Bauchentscheidungen. Wahlkämpfe, so Söders interessanter Hinweis, funktionierten auch nicht unbedingt anders. Die kommenden Tage bis zur amerikanischen Präsidentschaftswahl liefern reichlich Anschauungsmaterial für Söders These.

          „Berufspolitiker schaden dem Volk.“

          So formulierte Frau Gaus schließlich noch eine spannende Vermutung. Der Ruf nach Volksabstimmungen wäre „eine Scheindebatte“. Niemand wüsste, wie „die Unterschiede zwischen den Parteien wiederhergestellt werden könnten“. Wenn das richtig wäre, ähnelten wir der Schweiz schon mehr als allgemein vermutet.

          Allerdings betrifft das vor allem die beiden ehemaligen Volksparteien CDU und SPD. Sie scheitern mittlerweile daran, das alte Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition sicherzustellen. Es fehlen einstweilen noch handlungsfähige Alternativen jenseits einer Großen Koalition. Wenn sich daran nichts ändern sollte, wird sich selbst die CDU dem politischen Druck zur Aufnahme plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz nicht mehr widersetzen können.

          Es wäre die einzige Möglichkeit, um das politische System vor seiner Verkrustung zu bewahren. Ansonsten muss man sich nicht wundern, „wenn sich die Bürger eigene Wege suchen“, so Söder. Also bei Wahlen jene Parteien zu stärken, die den Unmut der Bürger bündeln, ohne selbst Regierungsverantwortung zu übernehmen. Einen Unmut, den ein Zuschauer so ausdrückte: „Berufspolitiker schaden dem Volk.“ Das ist zwar ausgemachter Unsinn. Wollen wir wirklich in Zukunft von idealistischen Amateuren ohne Erfahrung regiert werden? Oder von Zynikern wie Donald Trump, die solche Stimmungen lediglich zu ihren eigenen Gunsten ausbeuten? Sie signalisieren aber sicherlich Handlungsbedarf für die „politische Klasse“.

          So war diese Sendung informativ, sogar lehrreich und mit bisweilen humoristischen Einlagen. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Diskussion dem üblichen politischen Frontverlauf nicht entsprach. Vielleicht sollte die taz Markus Söder um einen Gastbeitrag für mehr Demokratie bitten. Und die CSU Bettina Gaus zu ihrem Parteitag in München einladen. Redezeit hätten die Bayern noch übrig, wo schon die Kanzlerin nicht sprechen wird. Aber das wäre wahrscheinlich zu viel verlangt. Von den Vorzügen der repräsentativen Demokratie ist schließlich niemand so überzeugt wie Horst Seehofer, wenigstens solange er noch in Bayern regiert - und nicht sein Finanzminister.

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