TV-Kritik „Die Akte Deutschland“ : Helmut Schmidt wollte NS-Dokumente nicht
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Angeklagte und Verteidiger im Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 Bild: WDR/dpa
Einblick in verdrängte Kapitel der Nachkriegsgeschichte: Die ARD blättert „Die Akte D“ auf und widmet sich in der ersten Folge der deutschen Justiz.
Es gehe immerhin, sagte David Simon zu Beginn der achtziger Jahre, um dreizehn Millionen Menschen. Der Direktor des Berlin Document Center, in dem die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem die zentrale Mitgliederkartei der NSDAP verwahrten, konnte die Deutschen nicht verstehen. Gerade hatten die Amerikaner der deutschen Regierung angeboten, ihr die gesammelten Unterlagen zu übergeben. Aber die Regierung wollte sie nicht, und darüber wunderte sich nicht nur David Simon. Auch die Reporter der englischen BBC, deren Aufnahmen von ihrem Interview mit Simon nun noch einmal zu sehen sind, scheinen dessen Einschätzung zu teilen. Es gehe hier, sagte er, um die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen. Um die Unterlagen von dreizehn Millionen Menschen - und die könnten ja nicht alle schon gestorben sein.
Warum aber hat man die Sache nicht verfolgt? Was brachte Adenauer dazu, schon 1949 davon zu reden, die Unterscheidung zwischen den „politisch Einwandfreien“ und den „nicht Einwandfreien“ müsse jetzt beendet werden? Wieso durften so viele Deutsche, die etwa als Beamte den Nationalsozialisten zu Diensten waren, nach dem Krieg wieder für Ministerien und Behörden arbeiten? Das sind die Fragen, die Christoph Weber in seiner Dokumentation „Das Versagen der Nachkriegsjustiz“ zu beantworten sucht. Der Film ist der erste in der dreiteiligen Reihe „Akte D“, welche die ARD vom 13. Oktober an montags zeigt. In ihr sollen an den Beispielen von Justiz, Bahn und Stromkonzernen, so die ARD, „verdrängte Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte“ neu beleuchtet werden.
Mythen und Glorifizierungen
Dass sich dieser nicht gerade kleine Anspruch erfüllen lässt, wenn etwa von der Bahn oder den Stromkonzernen die Rede ist, vermag man sich ja noch vorzustellen. Gerade in Bezug auf die Justiz aber weiter davon zu reden, „mit Mythen und Glorifizierungen der deutschen Nachkriegszeit“ aufzuräumen, scheint doch verwegen. Dass sich nach dem Krieg im Justizministerium Angestellte wiederfanden, die schon für die Nationalsozialisten als Juristen gearbeitet hatten, ist schließlich bekannt. Auch dass in diesem Ministerium Gesetze erarbeitet wurden, die halfen, die Verfolgung von NS-Verbrechern zu erschweren, wie etwa das sogenannte „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz“, mit dessen Hilfe 1968 zahlreiche Taten als verjährt galten, wusste man bereits.
Diplomatischer Eiertanz
Natürlich ist es trotzdem richtig, von diesem und anderen sehr unrühmlichen Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte zu erzählen - etwa auch von dieser Aktennotiz, die sich in kalifornischen Bibliotheken fand. Und der zu entnehmen war, dass die Bundesregierung unter Helmut Schmidt auf das Anfang der achtziger Jahre von den Amerikanern gemachte Angebot, das Berlin Document Center zu übernehmen, mit einem bemerkenswerten Deal geantwortet hat. Ja, so lautete der Vorschlag, man werde offiziell bitten, die Unterlagen übernehmen zu dürfen. Die Amerikaner sollten dieses Ansinnen aber bitte ablehnen. Warum die Deutschen kein Interesse an den Akten der NSDAP hätten? Das wollten seinerzeit nicht nur die Reporter der BBC wissen. Weil sich bestimmt einige Namen mit Verbrechen der NS-Zeit in Verbindung bringen ließen und das peinlich für die deutsche Regierung wäre, mutmaßte daraufhin der Direktor David Simon vor laufenden Kameras.
Das sind interessante, weil selten zu sehende Aufnahmen. Und auch wenn sie die einzigen überraschenden bleiben in einem Film, der ansonsten einer bebilderten Geschichtsstunde gleicht, ist es nicht verkehrt, sich auch diese anzusehen. Schade ist nur, dass sie so spät läuft.