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TV-Kritik: „Anne Will“ : Wer stoppt die jungen Intensivtäter?

Bild: dpa

Der Kriminelle ist ein Einserkandidat. Der frühere Schläger geht auf seine Frau los: In der Talkshow von Anne Will liefern die Gäste eine kleine Täterpsychologie. Doch haben Richter vielleicht zu viel Geduld mit den Tätern?

          3 Min.

          Erinnern Sie sich noch an Kirsten Heisig? Die Berliner Jugendrichterin legte mit dem „Neuköllner Modell“ die Grundlage dafür, dass jugendliche Straftäter schneller vor Gericht gestellt werden. Sie ragte mit ihrer Vorgehensweise heraus und machte sich viele Feinde. Ihre eigenen Probleme blieben verborgen. 2010 nahm sie sich das Leben.

          Katrin Hummel
          Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Anne Will sprach darüber im Anschluss an den ARD-Film „Das Ende der Geduld“, in dem Kirsten Heisigs Leben und Wirken thematisiert wurde. Thema der Talkrunde war die Frage, ob die Gerichte heute Kirsten Heisigs Ideen umsetzen oder ob Jugendrichter noch immer zu viel Geduld mit den Tätern haben. Wer sich für soziale Themen interessiert, mochte schon vor Beginn der Sendung ahnen, dass er am Ende nicht schlauer sein würde als am Anfang. Denn eine generelle Antwort auf diese Frage lässt sich in einer Talkshow selbstverständlich nicht finden.

          ARD-Fernsehfilm : Das Ende der Geduld

          Dennoch waren es lehrreiche sechzig Minuten. Das war hauptsächlich der Fernsehjournalistin und Autorin Güner Balci zu verdanken, die als Gast geladen war, oft aber  auch in die Rolle der Moderatorin schlüpfte. Balci ist als Tochter türkischer Gastarbeiter in Neukölln aufgewachsen, und sie hat als Jugendbetreuerin in ihrem Viertel gearbeitet. Nicht nur beschrieb sie sehr anschaulich, wie es dort zugeht („Einzeltäter können ein ganzes Viertel terrorisieren, man muss die einsperren, damit die anderen Menschen Ruhe vor denen haben“).

          Sie stellte auch immer wieder wichtige Fragen, die Anne Will souverän aufgriff, ohne sich auf den Schlips getreten zu fühlen: Wenn Opfer vor Gericht nicht aussagen wollen, weil sie Angst vor den Tätern haben, was dann? Antwort von Oberstaatsanwalt Michael von Hagen: Dann kann man nichts machen. Wie sieht der Jugendarrest aus? Die Antwort: Da organisieren sich die Täter nur umso besser.

          Die Rektorin ahnte nicht mal, dass er kriminell war

          Klar wurde, was man schon vorher gewusst hatte: Dass das Elternhaus der entscheidende Faktor dafür sein kann, ob ein Jugendlicher kriminell wird. Wenn, wie bei manchen Migranten, Gewalt zum Alltag gehört, hat, wie Güner Balci bemerkte, der Nachwuchs wenig Chancen, ihr abzuschwören. Anne Will warf ein, dass 84 Prozent der Berliner Intensivstraftäter einen Migrationshintergrund haben. Da hatte man kurz das Gefühl, dass man von jetzt an in dieser Runde nichts Neues mehr erführe.

          Die verstorbene Jugendrichterin Kirsten Heisig
          Die verstorbene Jugendrichterin Kirsten Heisig : Bild: dapd

          Doch dann hakte der Journalist und Filmemacher Christian Stahl ein, der zehn Jahre lang einen Intensivstraftäter und Sohn palästinensischer Flüchtlinge mit der Kamera begleitet hat. Der junge Mann sitzt zurzeit in Haft. Er sei aber „warmherzig, war Einserkandidat an der Rütlischule, und die Rektorin ahnte nicht mal, dass er kriminell war“, sagte Stahl. Seine These: Die Eltern des jungen Mannes sind hier nur geduldet, sie dürfen nicht arbeiten, obwohl sie es gerne würden, sie können nur in einem Problemviertel wohnen, somit wird ihr Sohn mit ihrer Hoffnungslosigkeit konfrontiert, außerdem ist er selbst nur geduldet und darf daher weder Abitur machen noch studieren noch arbeiten, „außer im Knast“.

          Es war gut, dass eine Richterin in der Runde saß, die sagte, dass so etwas nicht zwingend zu einer kriminellen Karriere führen muss. „Ich kenne auch Familien, da ist nur das jüngste Kind kriminell, weil es die falsche Peergroup hat“, sagte die Berliner Jugendrichterin Corinna Sassenroth. So erschien Stahls Erklärung, dass das deutsche Flüchtlingsrecht Schuld sei an der Verrohung der Jugend, nur als eine von vielen möglichen. Die  Richterin Corinna Sassenroth und der Staatsanwalt von Hagen sorgten ein um das andere Mal dafür, dass die Erklärungsversuche von Balci und Stahl mit Fragezeichen erschienen - als eine Möglichkeit von vielen, warum Jugendliche kriminell werden.

          Was das alles mit der Ausgangsfrage zu tun hatte, ob das Jugendstrafrecht zu viel Geduld mit den Tätern hat, wurde nicht so ganz klar. Anne Will warf die Frage immer mal wieder in die Runde. Aber ihre Gäste galoppierten ihr stets davon, angeführt von Güner Balci, die Einblicke in das Kiezgeschehen lieferte: „Die Täter lachen, wenn sie keine Strafe bekommen.“ „Mit dreißig hören die meisten auf, kriminell zu sein. Dann haben deren Frauen das Problem mit ihnen.“ „Die Jugendlichen können ein halbes Jahr die Schule schwänzen, ohne dass was passiert.“

          Die Richterin Corinna Sassenroth konnte sich das zwar kaum vorstellen, weil die Gerichte doch den Schulbesuch oft ausdrücklich anordneten. Doch genaue Zahlen konnte niemand liefern, und so blieben immer wieder vor allem Güner Balcis Worte hängen. Deutlich wurde an diesem Abend vor allem eines: Das Problem der Jugendgewalt ist immens, und niemand hat eine Idee, wie man sie stoppen kann.

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