TV-Kritik: Anne Will : Der Papst und der verteufelte Kapitalismus
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Anne Will Bild: dpa
Anne Will begann erst kurz vor Mitternacht. Fußball ist dann doch wichtiger als der Papst. Aber das Aufbleiben lohnte sich. Auch wegen Oskar Lafontaine.
Wenn im Laufe dieses Tages das Sturmtief „Xaver“ Deutschland erreicht, wird in der kommenden Nacht hoffentlich kein Hamburger Innensenator mit Nato-Stäben telefonieren müssen, um Hubschrauber und Sturmboote zu organisieren. Seit dem Desaster der Hamburger Sturmflut im Jahr 1962 hat unser Gemeinwesen Milliardensummen in den Küstenschutz investiert. Eines wird aber sicher heute anders sein als damals. Während die Menschen einst, einsam, verlassen und hilflos ertranken, werden heute Medien und soziale Netzwerke eine Aufregung veranstalten, selbst wenn nichts passieren sollte. In Talkshows wird „Xaver“ dann allerdings kein Thema sein. Sie kleben nicht in dieser Form an der Tagesaktualität im Minutentakt, wie die Live Ticker der Online-Medienökonomie. Und wer käme schon auf die Idee eine Sendung mit dem Thema zu machen: „Warum ist bei Xaver nichts passiert?“
Der Abtprimas leistete gerne Schützenhilfe
Anne Will wahrscheinlich auch nicht. Sie beschäftigte sich gestern Nacht mit dem Thema: „Franziskus verteufelt Kapitalismus - Muss Deutschland umdenken?“ Das Apostolische Schreiben des neuen Papstes hat nicht nur in Deutschland ein großes Echo hervorgerufen. Wobei man hoffen sollte, dass der Begriff des Teufels nicht der Überzeugung in Teilen des katholischen Klerus entspricht, ansonsten müsste man das Schlimmste befürchten. Nun ist eine der herausragenden Eigenschaften der Katholischen Kirche ihr historisches Bewusstsein. Sie denkt in langen Zeiträumen. So hat die katholische Soziallehre des 19. und 20. Jahrhunderts den deutschen Sozialstaat bis heute mehr beeinflusst als es die 150 Jahre alte SPD vermochte.
Bei wem ein Bewusstsein dafür gestern zu spüren gewesen ist, war Oskar Lafontaine. Der ehemalige Parteivorsitzende der SPD und der Linken wollte das Apostolische Schreiben von Franziskus nicht als einen Kursus in Volkswirtschaftslehre missverstehen. Er sieht in „Evangelii gaudium“ eine Wertorientierung formuliert, die eben nicht die Frage klärt, wie man am besten die beiden zentralen ökonomischen Kennziffern Investition und Verteilung in Übereinstimmung bringt. Franziskus, so Lafontaine, stellt vielmehr die Frage, auf Grundlage welchen Menschenbildes Ökonomie organisiert wird. Das betrifft Sozialismus genauso wie Kapitalismus, selbst die in einem Einspieler an einem Beispiel aus der Uckermark vorgestellten rührenden Versuche mit dem sogenannten „Freigeld“. In ihrer Umsetzung müssen sie das Problem von Investition und Verteilung lösen.
Das ist der Kern der Kritik vieler Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten an dem Sendschreiben des Papstes. Der Leiter der Wirtschaftsredaktion der „Süddeutschen Zeitung“, Marc Beise, brachte bei Frau Will das Unbehagen daran zum Ausdruck. Er teilt zwar die Kritik an den Missständen im Kapitalismus, vor allem im Finanzsektor, betrachtet aber den Ansatz des Papstes vor allem als „gut gemeint“. Er interpretiert „Evangelii gaudium“ als einen ideologischen Angriff auf ein marktwirtschaftliches Ordnungssystem, geprägt von den Erfahrungen des Papstes in seiner Zeit als Bischof in Lateinamerika. Der Abtprimas des Benediktinerordens, Notker Wolf, formulierte das so: Der Papst sei halt trotz seines Studiums in Deutschland nicht von den Erfahrungen mit der Sozialen Marktwirtschaft geprägt worden.
Bei Wolf bemerkte man die tiefe Verunsicherung, die Franziskus ausgelöst hat. Gehörte er doch zu den Theologen, die den Wandel der Sozialen Marktwirtschaft in einen deregulierten Finanzkapitalismus mit frommen Worten begleiteten. Frau Will wies mit guten Gründen auf seine Mitwirkung an einer Anzeigenkampagne der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ im Jahr 2006 hin. Sie wird bis heute vom Arbeitgeberverband der Metall- und Elektroindustrie finanziert – und gehörte damals zu den einflussreichen Akteuren eines Wertewandels zugunsten des „marktwirtschaftlichen Denkens“. Es galt den Einfluss der katholischen Soziallehre zurückdrängen, die man wie den Sozialstaat als Ballast empfand. Der Abtprimas leistet dabei gerne Schützenhilfe.