FAZ.NET Frühkritik: Maischberger : Wer grüßt Frau Hoernecke?
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Was macht den Menschen zum Mörder? Ein Gedenkkreuz für den totgeprügelten Jonny K., Anfang Mai am Berliner Alexanderplatz Bild: dpa
„Warum werden wir zu Mördern?“, fragte Sandra Maischberger in ihrer Sendung. Hinter dieser plakativen Frage verstecken sich Schicksale. Von Tätern und Opfern.
Das heutige Strafrecht ist das Ergebnis eines langen Zivilisationsprozesses. Es unterscheidet nicht ohne Grund zwischen der straflosen Vorbereitungshandlung und dem Versuch. Daher kann auch jeder Leser dieser Frühkritik schon einmal in einen Baumarkt gegangen sein, um sich einen Spaten mit dem Gedanken zu kaufen, damit könnte er seine Frau, den Mann, den Chef, Kollegen oder Nachbarn erschlagen. Beides, sowohl der Erwerb des potentiellen Tatwerkzeugs als auch der Gedanke an Totschlag oder Mord, ist straffrei. Wir wissen noch nicht einmal, wie viele Menschen solche Tötungsgedanken haben und das sogar mit einer solchen Art der Vorbereitungshandlung verbinden. Wobei die Kriminologie sicherlich längst auf die Idee gekommen ist, die Überwachung und Auswertung der Online-Kommunikation als Instrument zur Kriminalitätsvermeidung zu nutzen. Dann wird aus dem bisher unbekannten Baumarktkunden plötzlich ein Verdächtiger. So ähnlich funktioniert bekanntlich die britische Terrorabwehr. Nur dass der Partner des Guardian-Journalisten Glenn Greenwald wohl nicht in einem Baumarkt ist.
Als Sandra Maischberger am Dienstagabend fragte: „Warum werden wir zu Mördern?“, ist es diese These vom Generalverdacht, die beim Zuschauer ein leichtes Gruseln erzeugt, nur in aller Regel nicht vor sich selbst. Selbst wenn er schon einmal Tötungsgedanken sowie einen Spaten gehabt haben sollte. Die Statistik gibt ihm recht. Unter knapp 80 Millionen Einwohnern wurden in Deutschland im vergangenen Jahr 801 Menschen zu Mordopfern. Die Zahl der dazu gehörenden Mörder ist im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung verschwindend gering. Das Erstaunliche ist nicht die Tatsache, dass es Mörder gibt, sondern es so wenige sind. In der Debatte über das Thema „Mord“ und auch in Maischbergers Sendung kommt diese Perspektive immer zu kurz. Es ist ein langer Weg, bis jemand alle zivilisatorischen Hemmungen verloren hat, um zum Mörder (oder Totschläger) zu werden. Dahinter verbergen sich Schicksale, und zwar von Tätern, die jedes für sich erklärungsbedürftig sind, weil sie gerade die Abweichung von der Normalität darstellen. „Wir“ werden also zumeist nicht zu Mördern, aber jeder kann tatsächlich ein Schicksal erleiden, das ihn zu einem solchen machen kann.
Was ist die Aufgabe eines Strafprozesses?
Der Anlass für Maischbergers Sendung war der Fall des jungen Berliners Jonny K., der nach schweren Misshandlungen durch sechs Jugendliche an deren Folgen gestorben ist. Die Täter wurden zu langjährigen - nach Maßstäben des Jugendstrafrechts - Haftstrafen verurteilt. Die Schwester des Toten, Tina, zeigte bei Frau Maischberger ein erstaunliches Maß an Reife und Reflektiertheit. Sie hat einen geliebten Menschen verloren, und doch war in keiner Sekunde etwas von dem Zorn oder gar Hass zu spüren, der angesichts dieses Schicksals nur zu verständlich wäre. Sie konnte nur eben eines nicht verstehen: Warum haben die sechs Täter das getan? Tina K. kritisierte nicht die juristische Begründung des Urteils, sondern sie fand zwei Dinge verstörend: die geringe Empathiefähigkeit der Täter gegenüber den Angehörigen der Opfer – und ihre Unfähigkeit, für das, was sie getan haben, die Verantwortung zu übernehmen.
Nur ist das überhaupt die Aufgabe eines Strafprozesses? Der Strafverteidiger Stephan Lucas wies auf den bisweilen verdrängten Umstand hin, dass der Staatsanwalt für den Nachweis der strafrechtlichen Verantwortung zuständig ist, und nicht der Angeklagte oder sein Verteidiger. Der Täter kann allerdings durch die Übernahme von Verantwortung und Einsichtsfähigkeit die Strafzumessung positiv beeinflussen. Die Psychiaterin Dr. Nahlah Saimeh machte zudem deutlich, was für ein diffiziles Instrument das Jugendgerichtsgesetz ist. Es gilt ja mittlerweile nicht nur in der Perspektive mancher Polizisten als Ausdruck eines schwachen und verweichlichten Staates. Wenigstens brachte das der Vertreter der „Gewerkschaft der Polizei“, Lüder Fasche, zum Ausdruck.
Ein verlogenes Ritual
Jenseits dessen gab es in der Sendung einen spannenden Moment. Dafür sorgte Dieter Gurkasch, ein verurteilter Mörder, der nach 25 Jahren im Gefängnis seit dem Jahr 2011 wieder in Freiheit lebt. Er machte nicht nur deutlich, wieso er wurde, wie er wurde, nämlich ein „harter Kerl“ ohne moralische Skrupel. Sondern vor allem, warum es für Täter wie ihn so schwer ist, diese Identität zu verändern. Damit eben die Übernahme von Verantwortung und das Einfühlungsvermögen in die Lage der Opfer nicht zu einer bloßen Verteidigungsstrategie im Strafprozess werden.
Der Polizeigewerkschafter Fasche kritisierte diese Selbstanalyse Gurkaschs und monierte, ihm fehle die Opferperspektive. Warum er sich nicht bei seinen Opfern entschuldige oder mit ihnen Kontakt aufnehme, so sein Argument. Gurkasch antwortete mit einem wichtigen Satz. Er empfinde das gegenüber den Angehörigen des Opfers als „Anmaßung“. Er zwinge sie damit wieder in diese Situation, völlig unabhängig davon, ob sie das wollten oder nicht. Die Psychiaterin Frau Saimeh machte das auch an einem anderen Beispiel deutlich, bei dem ein Serienvergewaltiger in seinem Prozess eine Entschuldigung ablehnte, weil er sich für solche Taten nicht entschuldigen könne. Die Ärztin merkte dazu an, dass dieser ansonsten wenig reflektierte Täter gerade damit seine Empathiefähigkeit bewiesen habe.
Die Opferperspektive ist in den vergangenen Jahren als moralische Forderung an den Täter in den Strafprozess eingeführt worden. In dessen Logik ist es schon längst zu einem verlogenen Ritual geworden, das Angeklagte und Verteidiger als strategisches Kalkül bei der Strafzumessung einsetzen. Tatsächlich steckt hinter dieser Forderung wenig mehr als ein infantil gewordener psychologischer Diskurs. Er verbirgt den Kraftakt, den ein Täter wie Dieter Gurkasch vollbringen musste, um das zu ändern, was Frau Saimeh sein „Identitätskonzept“ nannte.
Fragilität der eigenen Identität
Dass es um Identität geht, wurde bei Renate Hoernecke deutlich. Sie war 25 Jahre lang mit einem Mann verheiratet, der ein homosexuelles Doppelleben führte und 2010 zum kaltblütigen Doppelmörder wurde. Nun führt nicht jedes Doppelleben zum Mord, genauso wenig wie der Erwerb eines Spatens im Baumarkt. Der Schock für Frau Hoernecke war der Selbstzweifel, den die Taten ihres Mannes bei ihr ausgelöst haben. Sie lebte, so ihr Eindruck, die vielen Jahre mit einem für sie im Grunde fremden Mann zusammen. Diese Erkenntnis habe sie nicht mehr „ausgehalten“.
Frau Hoernecke ist völlig unschuldig und wurde von ihrem Mann instrumentalisiert. Sie schilderte, wie die Familie trotzdem den Kontakt abbrach und sie die Nachbarn nicht mehr grüßen. Auch wenn wahrscheinlich niemand sie für eine Mittäterin halten wird. Das Verhalten ihrer Umgebung wird vielmehr davon bestimmt, dass in ihr die Fragilität der eigenen Identität zum Ausdruck kommt. Die Angst, in einen ähnlichen Abgrund geraten zu können, wenn die Umstände das möglich machen. Das meinte die Psychiaterin Frau Saimeh mit dem Satz: „Jeder kann zum Mörder werden.“ Sogar der Baumarktkunde mit dem Spaten.
Und wenn die Sendung vom Dienstagabend einen Nutzen haben sollte: Vielleicht denken die Familie und die Nachbarn von Frau Hoernecke über ihr Handeln nach. Es gibt für beide keinen guten Grund, weiter vor sich selbst davonzulaufen. Eine junge Frau namens Tina hat bei Frau Maischberger gezeigt, wie das geht.