TV-Kritik „Anne Will“ : Wird die Würde des Menschen maschinenlesbar?
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Talkshow zum Start der Themenwoche. Doch die Diskussion bei Anne Will droht schnell zu entgleisen. Bild: NDR/Wolfgang Borrs
Die ARD startet mit Tatort und Anne Will die Themenwoche „Zukunft der Arbeit“. Die Talkshow startet rasant - und wird durch einen Ulmer Psychiater schnell fast zum Entgleisen gebracht.
Wer sich mit der Zukunft befasst, ist gut beraten, gelegentlich einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. 1994 ging es zum Beispiel in Deutschland, aufgeworfen durch einen RTL-Moderator im Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Kohl, um das Thema Datenautobahn. Kaum hatte der Kanzler dazu eine sehr lustige, weil ziemlich ahnungslos wirkende Antwort gegeben, musste nach der Bundestagswahl ein eigenes Zukunftsministerium des Bundes her, dessen erster Ressortleiter seine politische Karriere vor sechs Jahren in Düsseldorf beendet hat.
Die „Datenautobahn“, nennen wir es präziser: das schnelle Internet, ist in Deutschland auch 22 Jahre nach Hans Meisers Frage nur inselweise und keineswegs flächendeckend vorhanden, weil die Telekom unverdrossen auf Kupferkabel setzt. Einige Kommunen und Regionen nehmen diese Aufgabe inzwischen in eigene Hände, weil sie weitsichtig Vorsorge dagegen treffen, sonst eines Tages abgehängt zu sein.
Vor Anne Will hatte der Tatort aus Bremen in Gestalt einer kleinen Schwester von Stanley Kubricks HAL ein Beispiel gezeigt, wie ein KI-Programm auf den Versuch reagiert, es zu löschen. „Wenn ich angegriffen werde, verfolge ich eine Routine und bringe die Befehle in eine logische Reihenfolge.“ Schöne Idee, dass der Selbsterhaltungstrieb eines Programms eine fatale Kettenreaktion zu Lasten Dritter auslöst.
Darüber wäre ambitioniert zu diskutieren. Tatsächlich saß in der Runde von Anne Wills Gästen mit dem Ulmer Psychiater Manfred Spitzer ein Eiferer, der die Dramaturgie der Sendung fast torpediert hätte. Natürlich ist kein Computer ein besserer Mensch. Im Idealfall könnte eine kluge Digitalisierung die Menschen und ihre Gesellschaft durchaus bessern. Nur wie? Kaum allein mit Prognosen, wie viele Arbeitsplätze wegfallen. Auch das Format der Talkshowkritik könnte durch einen Algorithmus übernommen werden, gäbe es nicht den einen oder anderen humanoiden Vorteil wie zum Beispiel ein gutes Gedächtnis, anekdotisches Schreiben und eine Idee davon, wie sich eine Beobachtung zuspitzen lässt.
Von Tamagotchis und Pflegerobotern
Die Japaner haben mit virtuellen Küken, den Tamagotchis, vor über 20 Jahren eine erste Idee realisiert, wie spielerisch der Umgang mit virtuellen Wesen aussehen kann. Kein Wunder, dass sie bereits Pflegeroboter und künstliche Emo-Robben nutzen, die bei dementen Patienten das emotionale Gleichgewicht stabilisieren helfen. Roboter übernehmen schwere Arbeiten und erleichtern den menschlichen Kollegen die Arbeit. Exoskelette ermöglichen einem gehbehinderten Patienten 500 Schritte statt, wie bisher, nur 20 Schritte zu laufen.
Psychiater Spitzer holt weit aus mit der Begriffskeule der „digitalen Demenz“, die unter seinem diagnostischen Blick nur vage Gestalt annimmt. Er habe nichts gegen die Technik, will Kinder und Jugendliche aber so lange wie möglich davor bewahren. Am besten sollten sie erst mit 14-16 Jahren damit beginnen. Die frühe Nutzung digitaler Medien führe zu Angst, Aggression, Aufmerksamkeitsstörung, Diabetes, Schlafstörungen und Demenz. Sascha Lobo ernennt Spitzer daher zu einem Angst-Unternehmer, dem es vor allem um den Absatz seiner einschlägigen Bücher gehe.
Christian Lindner, FDP-Bundesvorsitzender, einst selbst Internet-Unternehmer, erfolgreich gescheitert, ist an diesem Abend der Sowohl-Als-auch-Papst. Ja, Bildung und Jugendhilfe müssen besser werden, nein, das Telefon mit Wählscheibe war nicht besser. Dass gefährliche und anstrengende Tätigkeiten von Maschinen übernommen werden, findet er gut. Als Liberaler setzt er auf die Chancen, ohne die Risiken aus den Augen zu verlieren. Gute Bildung ermöglicht ein selbstbestimmtes Leben. Das klingt alles etwas zu nah an der Binse.
Sascha Lobo geht es darum, wie der Fortschritt sich lenken ließe und wie geeignete Debatten darüber aussehen können. Constanze Kurz und Frank Rieger, Autoren der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (F.A.Z.), haben 2013 mit ihrem Buch „Arbeitsfrei – eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen“ anschaulich beschrieben, was bereits der Fall ist.
Spaltung nach Kasse
Leni Breymaier, SPD- und ver.di-Vorsitzende in Baden-Württemberg, ist skeptisch. Robust plädiert sie für mehr Arbeitskräfte in der Pflege und fände es verwerflich, wenn die gesetzlich Versicherten unter die Obhut von Maschinen gelangten, während Bessergestellte von menschlichem Personal umhegt würden. Lobo springt ihr bei und erinnert daran, dass der Pflegesektor immer mehr von absurd niedrig bezahlten Hilfskräften aus Osteuropa lebt. Er bezweifelt, ob in diesem Segment noch menschenwürdige Arbeit möglich sei. Kommt es zu einer Spaltung der Gesellschaft? Das ist nicht ausgeschlossen. Bessere Chancen habe auf jeden Fall, wer programmieren kann.
Christian Lindner nutzt die Gelegenheit für ein Loblied auf das selbstbestimmte kreative Arbeiten. Es klänge glaubhafter, wenn er sich mit der Realität einer wachsenden Zahl von Clickworkern befasste, die als Selbständige zu Dumpingpreisen Miniaufträge für große Firmen ausführen. An die erinnert Frau Breymaier und fragt programmatisch nach der gesellschaftlichen Verteilung einer digitalen Rendite. Lindner wittert darin Teufelszeug und erinnert an Maschinensteuerideen aus den 70er Jahren. Solche Argumente wirken wie ein ideologischer Wiederholungszwang und scheinen kaum dazu geeignet, die tatsächlichen Herausforderungen der Digitalisierung angemessen zu beantworten. Bitkom-Chef Rohleder erfüllt seinen Verbandsauftrag und sorgt sich darum, wie der für das Jahr 2030 befürchteten Fachkräftemangel vermieden werden könne. Kaum durch digitale Enthaltsamkeitsrezepte für die deutsche Jugend von Dr. Spitzer.
Dampfmaschine des Geistes
Gehaltvoller wird die Diskussion, als Sascha Lobo an Frank Schirrmachers Zitat erinnert, das Internet sei die Dampfmaschine des Geistes. Die Digitalisierung verlaufe nicht flächendeckend gleichzeitig, das Neue sickere herein, es gebe immer mehr geringqualifizierte und weniger hochbezahlte Jobs. Zwei Millionen Selbständige erzielen einen durchschnittlichen Stundenlohn von fünf Euro. Lobo plädiert dafür, einen neuen Begriff von Arbeit zu entwickeln.
Der Weg dorthin ist steinig. 34 Prozent der deutschen Lehrer benutzen nur einmal in der Woche Computer. Spitzer reagiert darauf wie von der Tarantel gestochen. Kinder seien keine Computer, machten keinen Download, wenn sie etwas verstehen, verändere sich ihr Gehirn. Dass diese Neuroplastizität auch in der Interaktion mit Computern, etwa beim Programmieren lernen, zustande komme, scheint ihm Teufelszeug. Als auch Rohleder einwendet, mit Spitzers Rezepten seien Jugendliche nicht angemessen auf die Digitalisierung vorzubereiten und Spitzer wieder „falsch!“ dazwischen ruft, ernennt ihn Lobo zu Mr. Wrong, eine kleine Anspielung auf die dritte Debatte zwischen Hillary Clinton und Donald Trump.
Wrong findet Spitzer auch das Vorbild Schweden, dem die Welt die Erfindungen von Skype und Spotify verdankt. Alle Schüler verlassen in Schweden die Grundschule komplett zweisprachig. Spitzer bemängelt, dass sie nicht mehr mit der Hand schreiben können. Was für ein Segen, scheint Rohleder dazu zu denken, als er einwirft, dass er die eigene Handschrift nicht lesen könne. Die Generation Laptop sitzt mit aufgeklappten Geräten in ihren Gremiensitzungen. „Teufelszeug!“
Das Fernsehen mache dick, dumm und gewalttätig, sagt Dr. Spitzer im Fernsehen. Es wäre ein Segen, wenn er nach einem ähnlich krawallhaften Auftritt bei Frank Plasberg eine längere Auszeit im deutschen Fernsehen bekäme. Lobo hat recht. Spitzer will die deutsche Jugend auf ein Leben in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts vorbereiten. Ihm scheint egal, wie die Welt da draußen sich verändert. Was für eine fatale Lage.
Dem Ingeniör ist nichts zu schwör
Die Diskussion endet mit einem Fallbeispiel aus der Arbeit des Ethikbeirats im Bundesverkehrsministerium. Wie geht man in einer Welt selbstfahrender Autos mit dem Dilemma um, dass man der Maschine die Entscheidung überlässt, ob sie ein auf die Straße rennendes Mädchen totfährt oder den Tod der Passagiere in Kauf nimmt? Nach welchen Kriterien handeln Maschinen? Indem sie Artikel Eins des Grundgesetzes als unbedingte Befehlskette in ihren Code geschrieben bekommen?
Rohleder beschreibt das bisherige Szenario: Die Automobiltechnik schützt die Insassen eines Fahrzeugs. Durch Sensoren und Datenströme aus der immer tieferen Vernetzung erweitert sich das Leistungsspektrum der Autos von morgen. Erhalten die Sensoren Informationen über Kinder in der Nähe zur Fahrbahn, verlangsamt sich das Auto von morgen automatisch. So nimmt am Beispiel des ethischen Konflikts ein technisches Versprechen Gestalt an. Die Perfektion der vernetzten Maschinen verlagert das ethische Dilemma in den Raum des Unwahrscheinlichen.
Bei einer Umfrage des amerikanischen Forschungsinstituts MIT zu diesem Dilemma antworteten übrigens 75 Prozent der Befragten, das Auto müsse zum Schutz des Kindes ausweichen. 50 Prozent der Befragten würden so ein Auto allerdings nicht kaufen. Das kennzeichnet die Lage. Es geht nicht mehr darum, den Geist der digitalen Gesellschaft zurück in die Flasche zu pfeifen. Wie er dienstbar zu machen ist, ohne die Menschen zu minderbegabten Anhängseln zu degradieren oder, wie Spitzer das sagen würde, in digitale Demenz zu stürzen, ist nicht nur Aufgabe von Ingenieuren, denen bekanntlich nichts zu schwör ist.