TV-Kritik: „Hart aber fair“ : Sind Referenden Gottesurteile?
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Nur zur Erinnerung, was gestern Abend nicht zur Sprache kam: Das Unterhaus hatte im Jahr 2015 mit überwältigender Mehrheit die Durchführung eines Referendums beschlossen. Nach dessen überraschenden Ausgang erklärten alle Parteien, das Ergebnis zu respektieren. Der Austrittsbeschluss aus dem Jahr 2017 wurde im Unterhaus ebenfalls parteiübergreifend beschlossen. Es waren keineswegs nur die Torys, die in den vergangenen vier Jahren eine politische Bindungswirkung erzeugten. Das mit laxen Bemerkungen über „Gottesurteile“ zu kommentieren, zeigt die Ansteckungsgefahr der neu entdeckten britischen Emotionalität für den Kontinent. Wobei sich Glees, Röttgen und Kühnert einen gewissen Pragmatismus bewahrten: Ihre Positionierung hing von der Erwartung veränderter Mehrheitsverhältnisse bei einem neuen Referendum ab. Die Verlierer sollen sich in ihr Schicksal fügen, so die unausgesprochene Erwartung. Warum sie das tun sollen, ist unklar. So weiß am Ende niemand mehr, was Demokratie überhaupt noch ist.
Jenseits dessen hat dieses Brexit-Theater ökonomische Konsequenzen. Vor allem kleine Unternehmen leiden unter der fortdauernden Unsicherheit. Petra Braun betreibt in London eine deutsche Bäckerei. Sie beschrieb die Folgen: Ihre Abhängigkeit von Importen und den mit der politischen Konfusion verbundenen Wechselkursrisiken. Ein No-Deal Brexit erscheint nicht nur aus Frau Brauns Perspektive, wie der berühmte Schritt in den Abgrund. Ihr Gebäck mit der Europafahne wird so zum politischen Statement – und gleichzeitig zum Ausdruck von Hilflosigkeit. Angesichts dieser Einigkeit unter den anderen Gästen durfte Nikolaus Doll ein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen. Der Wirtschaftskorrespondent der „Welt“ kam als überzeugter Europäer sogar in die groteske Situation, sich mit dem Vorwurf „des Wüterichs“ herumschlagen zu müssen. Dabei machte er lediglich auf drei Tatbestände aufmerksam. Erstens konnte er die kursierenden Schreckensszenarien über einen vertragslosen Ausstieg der Briten nicht teilen. Tatsächlich erwecken manche Beobachter den Eindruck, wir könnten am kommenden Freitag eine Art Napoleonische Kontinentalsperre aus dem Jahr 1806 erleben. Warum aber in Zukunft deutsche Backwaren in London nicht mehr willkommen sein sollen, ist wenig plausibel. Zweitens nahm er die demokratietheoretischen Bedenken der Brexiteers ernst. Drittens aber hielt er eine Fortsetzung dieses Dramas für eine Entscheidung mit desaströsen Folgen für die EU. Das fasst er so zusammen: „Wer nicht mit ganzem Herzen dabei sein will, sollte nicht dabei sein.“ Tatsächlich ist es niemanden zu erklären, warum zwei Jahre nach dem vom Unterhaus mit großer Mehrheit beschlossenen Austritt aus der EU die Briten wieder an Europawahlen teilnehmen sollen. Niemand weiß außerdem, welche Abgeordnete dort am Ende sitzen werden. Sie werden über die Zukunft der EU mitentscheiden, obwohl sie zu einem völlig unklaren Zeitpunkt das Europäische Parlament wieder verlassen müssten. Und niemand weiß, wie sich eine britische Regierung im EU-Ministerrat verhalten wird. Die Obstruktionspolitik wäre nicht das Ergebnis des politischen Willens versprengter Brexiteers bei den Torys, wie es gestern Abend in einem Zitat von Jacob Rees-Mogg zum Ausdruck kam. Vielmehr geriete buchstäblich jede Entscheidung der Europäer in den Schraubstock britischer Innenpolitik. Zugleich wären die europäischen Partner wohl kaum mehr bereit, den britischen Sonderwünschen weiterhin nachzugeben.