TV-Kritik „Maybrit Illner“ : Wenn die Pflege zur Lebensfalle wird
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„Da bin ich ganz bei Ihnen“: Etwas zu oft ist Gesundheitsminister Jens Spahn an diesem Abend bei der Position seiner Gesprächspartner. Bild: ZDF/Jule Roehr
In der Pflege von Angehörigen ist Überforderung keine Ausnahme. Auch die stationäre Pflege stößt zunehmend an Grenzen. Maybrit Illners Gäste vermitteln ein erschreckendes Bild der Lage.
„Ist die Pflege noch zu retten?“ Die Leitfrage der Spezial-Sendung von Maybrit Illner klingt zu recht dramatisch. Eine alternde Gesellschaft kann davon erzählen, was gut ist, was schief läuft, was aus dem Ruder geht. Das war schon so, als Greta Wehner ihren an Alzheimer erkrankten Mann Herbert Wehner pflegte.
Bettina Michel pflegt ihren Vater Rudi Assauer und hat das Versprechen eingehalten, dass sie ihn nicht in ein Heim bringt. Sie klagt darüber, dass pflegende Angehörige keine politische Lobby haben. Persönliche Überforderung wird im deutschen Pflegesystem billigend in Kauf genommen. Der Generationsvertrag zwischen Eltern und Kindern ist aber auf extreme Belastungen nicht eingestellt.
Auch das schönste Versprechen der Kinder an ihre Eltern kann daran nichts ändern. Es kommt zu Grenzsituationen, in denen die pflegenden Familienangehörigen hoffnungslos überfordert sind. Das Versprechen der Kinder an die Eltern kann nicht bedeuten, dass die Kinder sich selbst aufgeben. Welche Mutter, welcher Vater würde dies von seinem Kind erwarten? In das Versprechen ist eine unsichtbare Grenze eingebaut, ohne Grenzschützer, an der das Eingeständnis des pflegenden Angehörigen, die Grenzen der eigenen Leistungskraft erreicht zu haben, nicht als Bruch des Versprechens missverstanden werden darf.
Über Alternativen nachdenken
Der Beistand bedeutet dann, über Alternativen nachzudenken, nicht als Bruch des gegebenen Versprechens, sondern als Suche nach bestmöglichen Alternativen. Der Zürcher Gerontopsychiater Christoph Held hat solche Beispiele in dem Buch „Wird heute ein guter Tag sein?“ beschrieben. Er plädiert in solchen Situationen für den Wechsel in ein Pflegeheim und nicht für den Ersatz des Angehörigen durch eine osteuropäische Pflegekraft. Es drohten in solchen Konstellationen Übergriffe, die in einem Heim zwar auch vorkommen, dort aber auch verhindert werden können.
Bettina Michel hat ihrem Vater das Leben so normal wie möglich gestaltet. Im letzten halben Jahr sei es aber sehr schwer für sie geworden. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) würde für die Pflege seiner Eltern nicht den Beruf aufgeben wollen, aber jede freie Minute da sein. Pflege von Angehörigen verlangt nur nicht nach freien Minuten. Dass man darüber mit Geschwistern redet, klingt vernünftig. Ob sich unter ihnen Einigkeit herstellen lässt, ist eine andere Frage.
Lob auf stille Heldinnen
Systemisch findet der Minister gut, dass Familien sich um ihre Angehörigen kümmern. Denn wenn alle ins Heim gingen, wäre die Pflegeversicherung am Ende. So singt er ein systemisches Lob auf stille Heldinnen des Alltags, denn noch sind es meistens die Töchter, die sich um die Eltern kümmern. Söhne glauben, Besseres zu tun zu haben.
Katja Kipping (Die Linke) ist noch zu jung, als dass sie mit ihrer Tochter darüber redete, ob sie sich um sie kümmert, wenn es nötig würde. Als es um die Pflege ihrer Großmütter ging, bemerkte sie, wie unterschiedlicher Meinung die eigenen Eltern waren. Pflege dürfe nur nicht zur Armutsfalle pflegender Angehöriger werden. 70 Prozent der Pflegebedürftigen werden von Angehörigen und ambulanten Pflegediensten zu Hause gepflegt.
Im Kampf mit dem Paragraphendschungel
Kornelia Schmid pflegt seit 25 Jahren ihren an Multipler Sklerose erkrankten Mann und hat zugleich drei Kinder erzogen. Sie müsse im Paragraphendschungel der Pflege um alles kämpfen, wünschte sich am liebsten ein eigenes Sekretariat für den Bürokratiekram von Anträgen, Widersprüchen und Abrechnungen. Jedes Monatsende wird zu einem zähen Kleinkampf. Aber sie hat es geschafft, auf Facebook eine Gruppe ins Leben zu rufen, in denen sich pflegende Angehörige austauschen können. Inzwischen hat die Gruppe 5800 Mitglieder.
Zwei Drittel der 2.860.000 Pflegebedürftigen werden von Angehörigen oder ambulanten Pflegediensten betreut. Inzwischen klagen auch diese über Personalmangel. Manche kündigen bestehende Pflegeverträge. Im Jahr 2030 rechnet man mit 400.000 fehlenden Stellen in der ambulanten Pflege. Der Beruf muss daher attraktiver werden. Für die vielen Pflegekräfte, die im Durchschnitt nach sieben Jahren den Beruf aufgeben, muss es ein motivierendes Rückkehrangebot geben. Frau Kipping plädiert für großzügigere Lohnersatzleistungen bei pflegenden Angehörigen.
Ilse Biberti, Autorin und Regisseurin, pflegte fünf Jahre ihre Eltern bis zu deren Tod. Pflegen sei learning by doing. Viel habe sie im Internet gelernt. Sie setzt als Hilfe auf Minijobs junger Mütter, auf Kurse der Krankenkassen. Sie wirkt sehr resolut, aber das Leben im einstigen Kinderzimmer neben den siechen Eltern sorgt für Krisen, die auch eine Tatort-Regisseurin nicht ohne weiteres wegstecken kann. Es geht nicht um das Aufgeben des eigenen Lebens, aber darum, den Belastungen standzuhalten, nicht zu verzweifeln, auch den Weg zurück ins eigene Berufsleben zu finden. Sie ist in den Jahren ein anderer Mensch geworden, durchlebte in der Nähe zu den sterbenden Eltern Kindheitstraumata von neuem.
Die brutalen Seiten des Pflegemarkt
Auch die brutalen Seiten des Pflegemarkts sind Thema. Übergriffe, ungeklärte Todesfälle, Verfahren wegen Totschlags, Körperverletzung und Misshandlung Schutzbefohlener sind Schlagzeilen, die dazu geeignet sind, den Bereich der stationären Pflege in ein schlechtes Licht zu rücken. „Bring mich nicht ins Heim!“ bedeutet, liefere mich nicht solchen Gefahren aus. Ein verzerrtes Bild kann aber kaum Grundlage für ein belastbares Versprechen sein.
Die Situation in den Pflegeheimen schildert der Rentner Walter Keil. Die Würde alter Menschen werde täglich verletzt. Seine Mutter sei mit 87 Jahren in ein Pflegeheim gezogen, das sie selbst ausgesucht habe. Die Arbeitsbedingungen in dem Heim seien schlecht gewesen. In den zweieinhalb Jahren haben 15 Mitarbeiter gekündigt. Nachts sei eine Pflegekraft für 50 Bewohner auf drei Etagen verantwortlich gewesen, zwölf Minuten Zeit pro Bewohner in einer Zehnstundenschicht. Dass die Einrichtung eines Diakonischen Werks keine Sterbebegleitung anbietet, weil sie nicht gegenfinanziert sei, klingt wie ein schlechter Hohn auf das Selbstverständnis der Evangelischen Kirche, die ihren Wettbewerbsvorteil gegenüber privaten Trägern, wenn es ans Sterben geht und die Medizin ans Ende ihres Lateins kommt, offenbar noch nicht richtig durchdacht hat.
Wege aus dem Drahtverhau des Systems
Mit mehr Stellen, wie Spahn in Aussicht stellt, ist es da nicht getan. Das Berufsbild Pflege kann und muss attraktiver werden. Martin Bollinger hat da einige aus dem Drahtverhau des Systems herausführende Vorschläge. Er ist gelernter Altenpfleger und stellvertretender Vorsitzender des Vereins „Pflegeethik Initiative Deutschland“. Ist es eine Utopie, das System der Pflegegrade abzuschaffen? Jedenfalls würde es den Renditeerwartungen privater Träger einen Strich durch die Rechnung machen. Anderes würde wichtiger.
Das Pflegesystem sei angst- und druckbesessen, alle hätten Angst vor allen. An diesem Vorhalt hat die arbeitsmarktpolitische Utopie eines attraktiven Berufsbilds ordentlich was zu knabbern. Keiner habe Mut für weitreichende Reformen. Die Abschaffung der Pflegegrade führe dazu, dass Anreize dazu entfielen, die Menschen pflegebedürftiger zu machen, als sie sind.
Häkchen kann wegfallen
Das Stöhnen über den Papierkram ist natürlich zwiespältig. Wie kann ein verantwortlich finanzierter Sozialstaat darauf verzichten? Bollinger kennt Gegenargumente. Wie komme es dazu, dass auch Skandalheime glänzend bewertet werden? Das tägliche Häkchen neben den erbrachten Leistungen in der Pflegeakte kann es nicht sein. Die Qualitätskontrolle, erinnert Spahn, liege in den Händen der Kommunen. Die tun sich schwer damit, ein schlechtes Heim zu schließen, weil sie nicht wissen, wohin mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Katja Kipping lobt das niederländische Modell, das die Renditeerwartungen privater Träger deckelt.
Alexander Jorde wurde im vergangenen Herbst berühmt, als er die Bundeskanzlerin zur Situation in der Krankenpflege zur Rede stellte. Seither hat er an argumentativer Kampfkraft noch gewonnen. Jetzt ist er 22 Jahre alt und im zweiten Ausbildungsjahr als Krankenpflegeschüler. Gewitzt, engagiert, sachkundig kann er auch dem frisch gebackenen Gesundheitsminister Paroli bieten. Ein niedrigerer Pflegeschlüssel werde dazu führen, dass Pflegekräfte aus der Teilzeit wieder in Vollzeitstellen wechselten.
Jens Spahn sagt an diesem Abend etwas zu oft „da bin ich ja bei Ihnen“, obschon er genau das gar nicht sein kann, er versucht so, die Sachzwänge seines Amtes zu umgehen. Jorde hat sich umgesehen. In vielen Ländern sei Pflege Gegenstand von eigenen Studiengängen. Wer das Berufsbild Pflege verbessern will, könne sich daran ein Beispiel nehmen.
Dienstmädchenkarrieren
Mit Renata Föry kommt eine Anbieterin zu Wort, die osteuropäische Pflegekräfte für die häusliche Betreuung vermittelt, also Betreuungsverhältnisse, die erst kürzlich Thema eines Tatorts waren. So preiswert die osteuropäischen Kräfte auch sein mögen, so kryptisch können die Situationen werden, in denen auch sie an eine Grenze des Leistbaren stoßen. Wer kontrolliert sie? Wie werden Übergriffe verhindert? Frau Förys Problem scheint aber nur der Schwarzmarkt von circa 400.000 illegalen Pflegekräften zu sein. Für Frau Kipping ein Symptom der Refeudalisierung von Dienstmädchenkarrieren. Jens Spahn dagegen stellt in Aussicht, die ambulante Pflege besser zu finanzieren.
Förderung könnte in einem Modellprojekt sinnvoller angelegt sein, das Christiane Moll aus Freiburg schildert. Ihr Vater ist an Demenz erkrankt und lebt seit dem vergangenen Jahr im Pflegeheim „Haus Rheinaue“ in Wyhl. „Es riecht nicht nach Krankenhaus. Meinem Vater geht es dort besser als zu Hause.“ Das Modell verbindet das gemeinsame Wohnen Pflegebedürftiger mit Dienstleistungen ihrer Angehörigen. Das macht das Helfen und Pflegen entspannter.