TV-Kritik „J’accuse“ : Die toten Soldaten kehren zurück
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Zwischen Apokalypse und Erleuchtung: Abel Gances Bilder von Verdun Bild: © Lobster Films/ZDF
Ein Film über den Ersten Weltkrieg, mit Todgeweihten 1918 gedreht. Mit „J’accuse“ von Abel Gance zeigt Arte ein einmaliges Gesamtkunstwerk in bester Restauration.
Wie dreht man eine Anklage gegen die Menschheit als Film? Wer das Unrecht anprangert, schreibt eher einen Brief wie Emile Zola 1898. „J’accuse“ („Ich klage an“) hieß der Text, in dem Zola die Dreyfus-Affäre publik machte und anprangerte, die ungerechte Verfolgung eines jüdischen Soldaten. Zwanzig Jahre später war der Ausspruch ein geflügeltes Wort, und der Filmemacher Gance verwendete ihn als Filmtitel in Zusammenhang mit dem bereits vier Jahre andauernden Weltkrieg, dessen Ende noch nicht absehbar war. Bemerkenswert ist, dass eine solche Anklage in Filmform, die keine Kriegspartei als eindeutig Schuldigen benannte, beispiellos war, da es in Frankreich üblich war, in propagandistischer Weise gegen den deutschen Feind zu hetzen, schon ab 1909 in den polemisierenden „Kaiser-Filmen“, während des Krieges noch heftiger in den „Hunnen“-Filmen, die aus deutschen Soldaten blutrünstige Bestien machten. Neben Charles Pathé finanzierte auch die französische Armee den Film maßgeblich mit, den Gance drehte, wohl im Glauben, sich an einem Propagandafilm zu beteiligen.
Abel Gance (1889-1981) ist heute vor allem durch sein Filmepos „Napoléon“ von 1927 berühmt und wegen der darin virtuos gehandhabten filmischen Techniken wie des „Polyvision“-Verfahrens, mit dem er spektakuläre Schlachtengemälde auf parallel gezeigten Leinwänden schuf. Der in Paris geborene Gance führte bereits ab 1912 Regie, schrieb die Drehbücher seiner Filme und produzierte auch selbst. Sein Erfolg ließ ihn eine Partnerschaft mit dem Produzenten Pathé eingehen, für den er auch sein erstes Hauptwerk „J’accuse“ konzipierte, das ursprünglich der erste Teil einer Trilogie sein sollte - eine leicht größenwahnsinnige Vorwegnahme seines „Napoléon“-Projekts. Von Anfang an verfolgte Gance, der wegen einer Tuberkuloseerkrankung nur kurzzeitig an der Front diente, einen kriegskritischen Ansatz.
Seitenhieb auf den Kriegsgegner
Wenn man die ersten Einstellungen des Films ansieht, könnte man denken, dass sie erst gegen Ende der Stummfilmepoche entstanden sind, so vorzüglich ist ihre Bildqualität, so kunstvoll werden Kameratechnik, Beleuchtung und Kadrierung eingesetzt. Doch die Dreharbeiten zu Abel Gances erstem Meisterwerk „J’accuse“ begannen bereits im August 1918 in Frankreich - der Weltkrieg dauert noch an - und endeten im März 1919.
Nun wurde die von Lobster Films Paris in Zusammenarbeit mit dem Eye Film Museum Amsterdam bereits 2007 bis 2009 aufwendig restaurierte Version des legendären Films erstmals öffentlich gezeigt und mit einer neuen Filmmusik von Philippe Schoeller aufgeführt, interpretiert vom Orchestre Philharmonique de Radio France unter der Leitung von Frank Strobel. In Paris war diese Premiere am 8. November im Salle Pleyel ein Höhepunkt im Rahmen der Gedenkfeierlichkeiten zum Ersten Weltkrieg. Arte, gemeinsam mit dem ZDF Kofinanzier des auch staatlich geförderten Prestigeprojekts, strahlt den Film heute aus.
Grundlage des Films ist das Theaterstück „Miracle à Verdun“ von Hans Chlumberg um eine Frau zwischen zwei Männern. Edith, Tochter eines Kriegshelden von 1870/71, ist mit dem rohen François verheiratet, liebt aber den Poeten Jean (den Gance in einem Zwischentitel mit „la France“ gleichsetzt). Beide Männer nehmen am Krieg teil und landen in derselben Kompanie, wo sie von der Entführung Ediths durch die Deutschen erfahren. Die Rivalität wandelt sich allmählich zur innigen Freundschaft - und wird später wieder auf die Probe gestellt, wenn sie Edith wiedersehen. Gance konnte an der Seite französischer Soldaten reale Schlachtfelder wie das bei Hattonchâtel nahe Verdun filmen und für die berühmte Schlusssequenz auf 2000 Soldaten zurückgreifen - Todgeweihte, die eine Woche Fronturlaub hatten und nach den Dreharbeiten in Verdun verheizt werden sollten. Solche Dokumentaraufnahmen geben dem melodramatischen Kern des Films eine realistische Basis. Die an ihren Pickelhauben erkennbaren deutschen Soldaten erscheinen als Schattenrisse an der Wand. Im Film der einzige direkte Seitenhieb auf den Kriegsgegner, der ansonsten fast unsichtbar bleibt. In der berühmten Schlusssequenz, in der die gefallenen Soldaten zum Marsch auferstehen, zeigt sich das Talent Abel Gances, große Momente zu erschaffen, zwischen Apokalypse und Erleuchtung.
Hier erweist sich auch die Meisterschaft des Komponisten Philippe Schoeller, Jahrgang 1957, der eine äußerst expressive, kongeniale Musik vorgelegt hat. Im Orchester werden ungewohnte Klangfarben durch den vielfältigen Einsatz von Schlaginstrumenten, wie Bienenschwärme summende Geigen und einen virtuellen Chor erzeugt. Einmal wieder erweist sich Frank Strobel als Dirigent, der solche Musik mit einem modern ausgerichteten Orchester punktgenau zum Film einstudieren kann. Der Arte-Zuschauer bekommt heute ein einmaliges Gesamtkunstwerk in bester Restauration zu sehen, das einen besseren Sendeplatz verdient gehabt hätte.