TV-Kritik „Anne Will“ : Verrückter Hormonhaushalt der ARD
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Die Turbulenzen der Nacht gehen auch an der Sendung von Anne Will nicht vorbei: Statt Markus Söder (CSU) soll Daniel Günther (CDU) das Verhalten von Horst Seehofer erklären. Bild: NDR/Wolfgang Borrs
In der Nacht überschlagen sich die Ereignisse: Die CSU stiftet Verwirrung. Über den Standpunkt des Chefredakteurs von ARD-aktuell herrscht dafür Klarheit. Mit Journalismus hat das nichts mehr zu tun.
Die ersten Meldungen über den angeblichen Rücktritt von Innenminister Horst Seehofer gab es gegen 22.45 Uhr. Sie platzten in die Sendung von Anne Will. Vor zwei Wochen war eine von ihr geplante Sondersendung noch am Widerstand des NDR gescheitert. Gestern Abend war das anders. Sie hatte den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) eingeladen – und wieder kam alles anders.
Unter Umständen war dieser Sonntag auch ein Social-Media-Experiment der CSU. Anders sind gewisse Ereignisse kaum zu erklären. Etwa wenn jemand ein Ereignis kommentiert, was gar nicht stattgefunden hat. Dieses Kunststück gelang Kai Gniffke als Leiter von ARD-aktuell in den Tagesthemen. Dort bewertete er den Rücktritt von Horst Seehofer vom Amt des Bundesinnenministers und dem des CSU-Parteivorsitzenden. Er hätte einen „besseren Abgang verdient“, so Gniffke ganz jovial, „jetzt wurde es aber Zeit“. Nur hatte es gar keinen Rücktritt gegeben.
Es gab lediglich Meldungen aus der CSU-Vorstandssitzung über Seehofers Rücktrittsangebot. Was ihn dazu motivierte, welche Umstände dafür verantwortlich waren, entzog sich der Kenntnis jedes journalistischen Beobachters. Diese waren vielmehr auf die berühmten Informationen aus Teilnehmerkreisen angewiesen. Dort sitzen höchst unterschiedliche Akteure mit auseinanderlaufenden Interessen. Eine Erklärung aus dem Umfeld Seehofers gab es nicht. Es gab somit nichts zu kommentieren.
Irrsinn via Twitter
Wie kommt also der Leiter einer der wichtigsten Nachrichten-Redaktionen in Deutschland auf eine solche Idee? Er greift sogar selbst zur Feder, um mit triumphaler Geste das politische Ende Horst Seehofers zu verkünden. Nun ist der Zuschauer etwa von Tina Hassel einiges gewohnt. Als Leiterin des Hauptstadtbüros der ARD vermittelt sie jeden Gedanken, den das Bundeskanzleramt gerade hat. So bleiben wir immer gut informiert, was die CDU-Vorsitzende zu tun gedenkt. Aber das Auskosten dieses Sieges über die CSU sollte dem Chefredakteur vorbehalten bleiben. Dann kommentiert er schon einmal Sachverhalte, die es gar nicht gibt.
Frau Hassel musste sich mit Twitter begnügen. Auf die überraschende Nachricht des ausgebliebenen Rücktritts formuliert sie um kurz nach eins in der Nacht: „Stimmt... kein Scherz, sondern Irrsinn. Zeigt nur, alles ist offen morgen. Ein ganzes Land in Geiselhaft.“ Ein Land ist in Geiselhaft, weil Horst Seehofer nicht den Erwartungen von Frau Hassel entspricht. Auf diese Idee kann man kommen, allerdings kaum als journalistischer Beobachter. Das professionelle Desaster des Kai Gniffke ist kein Zufall. Es ist ein Symptom der Krise. Jeder Journalist hat politische Präferenzen. Nur dominiert im Umgang mit der CSU bei vielen Kollegen offenbar ein Gefühl der Verachtung für diese Partei.
Ein Gniffke oder eine Frau Hassel wissen daher nichts anderes mehr zu berichten als ihr Tremolo vom „Merkel muss bleiben“. Sie haben dabei sogar ihre journalistische Neugier an den Begleitumständen solcher Machtkämpfe verloren. Stattdessen kolportieren sie lieber ihren eigenen Irrsinn.