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„Polizeiruf“ aus Magdeburg : Wenn das ganze System versagt

  • -Aktualisiert am

Ronny (Johann Barnstorf, li.) mit Matthias (Thomas Schubert), einem Heimmitarbeiter Bild: MDR/Stefan Erhard

Das „Polizeiruf 110“-Drama „Ronny“ handelt vordergründig von einer rätselhaften Tat. Doch eigentlich geht es um die Schutzlosigkeit der Schwächsten. Es ist ein ergreifendes Trauerspiel.

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          So viel Herzenswärme, so prächtige Geschenke zum zehnten Geburtstag, das dürfte in Kinderheimen nicht die Regel sein. Dass Ronny (Johann Barnstorf) trotz der liebevollen Konfettiparty, trotz des schnittigen Schweizermessers, der teuren Angel und des neuen Mountainbikes nicht vor Freude strahlt, liegt daran, dass seine Mutter (Ceci Chuh), clean inzwischen, aber noch nicht für fähig befunden, für ihren Sohn zu sorgen, nicht zur Feier erschienen ist. Erst am Nachmittag kann er sie besuchen, sie wohnt nicht sehr weit.

          Aber auch dort hält das Glück nicht lange an, denn der Freund der Mutter (Oskar Bökelmann) jagt den Jungen, der ihn zu stören scheint, brüllend aus der Wohnung. Der wie beiläufig beobachtend wirkenden Regie von Barbara Ott – obwohl natürlich die meisten Szenen mit voller Absicht in dunkle, enge Räume verlegt wurden – und dem glaubhaften, sich nie moralisierend über die Dialoge erhebenden Drehbuch von Jan Braren gelingt es, schon mit wenigen Einstellungen den Eindruck zu erwecken, dass diese beklemmende Melange aus Sehnsucht, übersteigerten Erwartungen, Gefühlshemmung, Aggression und Verlorenheit für Ronny bereits etwas Gewohntes darstellt. Sie hat sein gesamtes Leben geprägt, was die Situation nicht besser macht, ganz im Gegenteil.

          Eine etwas zu emotionale Ermittlerin

          Von diesem Moment an bleibt der Junge verschwunden, Stunden, dann Tage; es wird immer deutlicher, dass ihm etwas zugestoßen sein muss. Es lässt sich rekonstruieren, dass Ronny die S-Bahn nahm und nördlich von Magdeburg am Bahnhof Zielitz ausgestiegen ist, aber die groß angelegte Suche führt nicht weiter.

          Hier kommt die beste, wenn auch eigensinnigste Ermittlerin der Region ins Spiel, Doreen Brasch (Claudia Michelsen). Sie ist nicht nur selbst in einem Kinderheim aufgewachsen, sondern wird auch von Schuldgefühlen angesichts eines nicht gelösten Vermisstenfalls heimgesucht: „Ich werde nicht den gleichen Fehler ein zweites Mal machen.“ Die Figur Brasch ist bekannt für ihre Empathie, im Zaum gehalten oft nur durch die kühle Pragmatik des Vorgesetzten Lemp (Felix Vörtler). Diesmal allerdings wirkt die emotionale Involviertheit der Kommissarin – was zu viel großäugiger Betroffenheit und manchem Wutausbruch führt – leicht überzogen. Die Erzählung selbst ist eindrücklich genug. Sie braucht diesen Intensitätsverstärker nicht.

          Trailer : „Polizeiruf 110: Ronny“

          Spuren Ronnys tauchen auf, sein Blut auf einem Boot, das dem Heim gehört, das versenkte Fahrrad. Ein Schlüssel zu seinem Schicksal ist das nicht. Dazu gilt es, Ronnys Lebensumstände so exakt wie möglich zu vermessen. Der Film verdichtet sich zu einer eng begrenzten Milieustudie, kaum umfangreicher als ein Kammerspiel. Da ist die überforderte, aber liebende Mutter: Kann sie ihren Sohn, den sie um jeden Preis zurückhaben möchte, entführt haben? Da ist ihr gefühlskalter Lebensgefährte René, der Brasch gegenüber andeutet, Ronny habe „die harte Hand“ gefehlt. Ein Alibi hat René nicht.

          Die Idylle trügt

          Auch das Heim selbst erweist sich beim genaueren Hinsehen als weniger idyllisch, als es zunächst den Anschein hatte. Heimleiterin Gaby (Maja Schöne), die so patent auftritt, hat gegenüber ihrem eigenen, pubertierenden Sohn Gordon (Valentin Oppermann) längst alle Autorität verloren. Sie wirkt hilflos. Auf ihren Schutz konnte sich Ronny wohl nicht verlassen. Das sagt nicht nur die Handlung, das sagen vor allem die tristen Bilder (düster, farblos, kalt) und der bedrohlich ruhige Erzählton, der an das leise, aber unerbittliche Versinken im Morast erinnert.

          Sabine (Ceci Chuh), die Mutter des verschwundenen Ronny
          Sabine (Ceci Chuh), die Mutter des verschwundenen Ronny : Bild: MDR/Stefan Erhard

          Auch Ronnys Lieblingserzieher Matthias (Thomas Schubert), ein Vaterersatz, so gut es geht, hat offenbar dunkle Geheimnisse, verstrickt sich in Widersprüche und gerät unter Verdacht. Nach und nach zerfällt das Konstrukt Heimunterbringung aus Kindeswohlgründen. Nicht nur Ronnys Eltern haben versagt, auch das System, das sich seiner annahm. Brasch wandelt als moralische Instanz durch diesen Kosmos, der gar nicht per se schlecht ist. Auf allen Ebenen findet sich auch viel Zuneigung für die Kinder; nur für das essenzielle Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit scheint es nicht gereicht zu haben.

          Die Protagonistin tritt als Fürsprecherin der Schutzlosen auf, bringt ihre eigenen Kindheitserfahrungen mit ein und kämpft schließlich gegen übermächtige Gegner: die Gleichgültigkeit des Systems und die tiefe Akzeptanz von Gewalt in der Gesellschaft. Letzteres führt dazu, dass Gewalt emotional instabilen Personen als legitime Verhaltensweise erscheint.

          Die Tat bleibt enigmatisch. Als Kriminalfall ist dieser „Polizeiruf 110“ nur beschränkt originell, aber darum geht es nicht. Vielmehr ist Braren und Ott ein ergreifendes Trauerspiel gelungen, ein gesellschaftspsychologisches Drama der Versehrung und der Ausweglosigkeit, überzeugend gespielt und mit einem nachhallenden Schluss. „Ich weiß, dass ich eigentlich traurig sein sollte – aber ich bin’s nicht“: Nach diesem Satz, das weiß Brasch, gibt es nichts mehr zu reden. Da beginnt die Finsternis.

          Der Polizeiruf 110: Ronny läuft an diesem Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

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