„Polizeiruf 110: Black Box“ : Mord ohne Motiv?
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In der Erinnerungslücke: Adam (Eloi Christ) wird durch Kommissarin Brasch (Claudia Michelsen) verhört. Bild: MDR/filmpool fiction/Conny Klein
Gedächtnisverluste: Im „Polizeiruf 110: Black Box“ kämpft Kommissarin Brasch mit der Unvollständigkeit menschlicher Erinnerungen. Das ist gut besetzt, stimmig gespielt und erst im Abgang unglaubwürdig.
Man sieht nur, was man weiß. Zwei junge Männer stehen im Zug am Abteilfenster, küssen sich, leicht verstohlen. Sie setzen sich nebeneinander, dann reden Adam (Eloi Christ) und Tomi (Kai Müller) über das bevorstehende Treffen mit Adams Eltern. Als ein Dritter das Abteil betritt, schiebt Tomi Adams Hand weg. Christof Oschmann (Helge Tramsen) telefoniert lautstark, beleidigt die Person am anderen Ende, setzt sich gegenüber, ohne von dem Paar Notiz zu nehmen. In Adam scheint etwas zu klicken. Er stürzt sich auf den Nothammer und erschlägt den Telefonierenden auf grausame Weise. Beschränkt man sich auf das, was tatsächlich zu sehen ist in den ersten Minuten des MDR-„Polizeirufs 110: Black Box“, dann sieht man lediglich einen unverständlichen Ablauf ohne Anlass.
Als Doreen Brasch (Claudia Michelsen) zum Tatort kommt, findet sie genau das: ein Rätsel. Es gibt das erschlagene Opfer, den besudelten Täter, dem sie dann im Befragungsraum gegenüber sitzt, und sein Geständnis. Kein Motiv. Scheinbar keinen Anlass, kein einziges Wort wurde gewechselt, nicht einmal Notiz hatte man voneinander genommen (das weiß freilich nur das Publikum).
Die Ermittlung kann abgeschlossen werden, das findet zumindest Uwe Lemp (Felix Vörtler), Braschs Vorgesetzter, der sich Sorgen macht. Denn man sieht noch eine zweite Geschichte in den ersten Szenen, parallel erzählt zu den Vorgängen im Zug. Brasch sagt vor Gericht gegen den Frauenquäler aus der „Polizeiruf“-Folge „Der Verurteilte“ aus, der sie gefangen hielt. Sie durchlebt ihr Trauma, seiner Gewalt ausgesetzt zu sein. In rotflirrenden Bildersprengseln erlebt sie wieder und wieder, wie der Täter sie ermorden wollte und wie sie sich befreite. Die Erinnerungsfetzen geben keine zusammenhängende Geschichte (Kamera Eeva Fleig).

Trailer : „Polizeiruf 110: Black Box“
Notwehr scheidet aus
Braschs Bilder spiegeln sinnliche Eindrücke von höchster Todesnot. Daneben oder darunter sind Leerstellen. Gäbe es einen Ablaufzusammenhang, wäre das der erste Schritt zur Heilung. Lemp will, dass Brasch, eigentlich dienstunfähig, sich bei der Psychologin Dr. Bräunlich (Susanne Böwe) in Therapie begibt. Brasch stört schon der Name der Seelenklempnerin. Sie widmet sich lieber ihrer eigenen Form von Selbstfürsorge – das Motiv der Tötung im Zug, versteckt in Adams retrograder Amnesie, muss entborgen werden. Sie sieht sich seelenverwandt zum Täter („da ist ein Loch in meinem Kopf, das immer größer wird“), der in ihrem Beisein einen spektakulären Selbstmordversuch unternimmt. Juristisch zu klären wäre die Frage, ob es sich um gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge, um Totschlag oder Mord handelt. Nur Notwehr, wie Tomi zu Protokoll gibt, scheidet aus.
Brasch verbeißt sich, irritiert von der seltsamen familiären Harmonie in Adams Elternhaus. Der Vater, Klaus-Volker Dahl (Sven-Eric Bechtolf), ist ehemaliger LKA-Chef mit tadellosem Ruf, die Mutter Bianca (Corinna Kirchhoff) eine Psychologie-Koryphäe („Master of Memory“) die zu Problemen der Authentizität von Erinnerungen und ihrer Überschreibungen geforscht hat. Die Eltern beharren in seltsamer Weise darauf, dass Adam „die glücklichste Kindheit“ gehabt habe. Warum aber wurden bei dem Jungen erstaunliche kognitive Beeinträchtigungen diagnostiziert? Warum malt er zwanghaft Leitern? Indiz für Indiz, Zufall für Zufall nähert sich Brasch mit ihrem sympathetischen Kollegen Günther Márquez (Pablo Grant) der abgeschlossenen Schublade, der „Black Box“, in Adams und ihrem Gedächtnis an. Regisseurin Ute Wieland inszeniert diese Suche in teilweise hitchcockmäßiger Psychothrillermanier durchaus spannend.
Wer sich für seelische Abgründe interessiert, ist mit diesem „Polizeiruf“ überhaupt gut bedient. Das Thema Erinnerung, das auch im BR-„Tatort – Flash“ zuletzt im Zentrum stand, wird sinnlich-sinnhaft zugänglich. Ein Nachteil von „Black Box“ ist die komplizierte, wackelige Konstruktion des Tathintergrunds, die das Drehbuch von Zora Holtfreder bereithält. Sepiagefärbte Rückblenden machen zwar Eindruck, die von Brasch intuitiv erahnten Zusammenhänge aber nicht plausibler. Man muss bereit sein, etliche Unwahrscheinlichkeitskröten zu schlucken, um die finale Rekonstruktion zu glauben. Schauspielerisch gibt es an „Black Box“ nichts zu bemängeln. Michelsen, mimisch zurückgenommen, verkörpert die innere Not des Gedächtnis-Kontrollverlusts ohne äußerliches Brimborium, die Nebenrollen sind gut besetzt und stimmig gespielt.
Polizeiruf 110: Black Box läuft am heutigen Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.