„Soviet Hippies“ auf Arte : Wer nackt im Regen tanzt, hat immer recht
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„Mit einem Bart wurde man schon schief angesehen, mit langen Haaren und Bart warst du kein Mensch mehr“: Darauf lautete das Vorurteil, von dem sich die Hippies im Osten nicht beeindrucken ließen. Bild: © MDR/privat
Ewig jung im Osten: Gegen das Hippievirus war selbst das Sowjetregime machtlos, wie eine herrlich psychedelische Arte-Doku zeigt. Sie macht deutlich, welchen Mut man in Russland für die Gegenkultur braucht.
Mit Dissidenten wusste sie umzugehen, die sowjetische Geheimpolizei, aber diese Langhaarigen, die sich aus Asthmamedikamenten bewusstseinserweiternde Drogen bastelten, bekam sie nicht in den Griff. Für jeden zwangsrasierten Schädel tauchten zehn neue Mähnen auf, die sich mit frommer Inbrunst gitarrenverzerrten Rauschzuständen hingaben. Aus einem alten russischen Propagandafilm, der tanzende Hippies zeigt, spricht die nackte Angst: „Diese Trance nennt man ‚Erholung für Jugendliche‘!“ Eine vom Klassenfeind induzierte Epidemie witterte das verunsicherte Regime, obwohl Hippies im Westen nicht ganz zu Unrecht unter Kommunismusverdacht standen. Bald sprach man sogar – der Ritterschlag – von einem „System“ („Sistema“). Daran stimmt immerhin, dass sich diese Jugendbewegung, die es nicht geben durfte, am Staat vorbei selbst organisierte.
Zuckende Tänze und seltsame Schreie derart als Affront zu begreifen war sicher nicht klug. Und es war fatal für viele der Sowjethippies, die mitunter nicht nur ihre Jobs und Ausbildungsplätze verloren. Aare Loit aus Tallinn etwa erzählt in diesem angemessen verstrahlten, unverfroren parteiischen Film, wie er mit fünfzehn Jahren von der eigenen Mutter in die Psychiatrie eingewiesen wurde, weil er die „Sgt. Pepper’s“-Platte der Beatles gehört hatte. Voll aufgedreht, versteht sich. In der Anstalt unterzog man den vermeintlich Irren einer Insulinschocktherapie. Die künstliche Unterzuckerung führte – ausgerechnet – zu krampfartigen Zuckungen und seltsamen Schreien.
Aus einer Modewelle macht der Staat eine Gegenkultur
Man kann das als symbolisch ansehen: Alle Repressionen, mit denen die Sowjetmacht seit den sechziger Jahren gegen die heimische Flower-Power-Bewegung vorging, führten nur dazu, dass das Bekämpfte wuchtiger zurückkehrte. „But the crowd called out for more“, um es mit Procol Harum zu sagen. Aus einer unschuldigen Modewelle hatte der panische Staat eine politisch engagierte Gegenkultur gemacht, die ganz eigene Helden gebar: den Vollbartesoteriker Michael Tamm alias Sri Rama etwa oder den Litauer Romas Kalanta, der sich 1972 aus Protest gegen das Regime öffentlich verbrannte.
Vor allem die neue Musik aber war das einende Band. Beatniks, Progressive Rock, psychedelische Experimentalmusik, Space Rock, das alles gab es auch im Untergrund des Ostens und ist hierzulande wenig bekannt. Die unkonventionelle Dokumentation der jungen estnischen Filmemacherin Terje Toomistu verzichtet auf eine Erzählerstimme und nimmt sich stattdessen Zeit für diese Musik. Auch auf der Bildebene schwelgt die Dokumentation im historischen Material: Wacklige Super-8-Aufnahmen, Fotos vom Kommunenleben und schräge zeitgenössische Animationen sind zu einem Bewusstseinsstarkstrom zusammenmontiert. Was gesagt wird, entstammt fast immer Gesprächen mit merklich gealterten, aber bestechend unverbogenen Blümchenrentnern, die bis heute an die Kraft des Dionysischen glauben, ans ungehemmte Miteinander auf den berauschenden Harmoniewellen eines schillernden Ozeans aus Liebe und Trance: „Es gibt keine Ex-Hippies. Entweder ist man Hippie, oder man ist keiner.“ Und tatsächlich tanzt da auch die zweite und dritte Generation.
Es scheint, als sei nur im Osten das Hippietum ewig jung geblieben, weil es nie Lifestyle wurde, sondern immer gesellschaftliche Herausforderung blieb. Im neoorthodoxen Russland Wladimir Putins treffen sich die papageienbunten Freaks bis heute an jedem 1. Juni in einem Moskauer Park, um an eine besonders niederträchtige Aktion des KGB aus dem Jahre 1971 zu erinnern: Man hatte die Gammler zu einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg gerufen, nur um die Angereisten dann zu Hunderten hinter Gitter zu bringen. Ein „ausländischer Agent“, wer dabei an heutige Verhältnisse denkt. Aber auch die Subversion geht weiter. Einer der Althippies bringt es auf den Punkt: „Wir haben uns erlaubt, frei zu sein – in einer Zeit, in der hier alle mit roten Fahnen rumgelaufen sind. Und jetzt? Erst recht!“