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Sotschi 2014 : Wo Russland ein gescheiterter Staat ist

Aus einer von Kämpfen zerrissenen Region: Der Polizist Hamzad Ivloev warf sich auf eine Bombe islamistischer Rebellen, um andere zu schützen. Er verlor seine Beine, einen Arm und das Augenlicht. Die Journalisten Rob Hornstra und Arnold van Bruggen zeigen Bilder wie diese aus der zukünftigen Olympiastadt. Russland verweigert ihnen zurzeit die abermalige Einreise. Bild: Rob Hornstra / The Sochi Project. From: An Atlas of War and Tourism in the Caucasus (Aperture, 2013)

Der Bundespräsident bleibt den Olympischen Winterspielen in Sotschi fern. Was bekäme er dort zu sehen? Die brutalen Wahrheiten, die zwei Reporter aufzeigen, garantiert nicht: „The Sochi Project“.

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          Als Sotschi den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele 2014 erhielt, war es ein Badeort, der bessere Zeiten gesehen hatte. Im Alltag der Stadt am Schwarzen Meer spielten Stromausfälle eine tragende Rolle, während die Hotels auch in den besten Lagen einen abgenutzten realsozialistischen Charme ausstrahlten, einschließlich Gemeinschaftsdusche am Ende des Flurs. In der Sowjetunion war eine Reise nach Sotschi der Traum von Millionen - sei es in eine der in den siebziger Jahren entstandenen Hotelburgen, sei es in eines der Sanatorien, die Stalin zur Erholung verdienter Proletarier und Funktionäre hatte bauen lassen. Doch in den Jahren des öl- und gasgetriebenen Aufschwungs der ersten Putin-Dekade verlor es Boden gegenüber Urlaubzielen in der Türkei und Ägypten, die für die russische Mittelschicht erschwinglich wurden.

          Reinhard Veser
          Redakteur in der Politik.

          Man kann nicht sagen, dass Sotschi in der Sowjetzeit verharrte: Die Dauerstaus auf seinen nicht für diesen Verkehr gebauten Straßen wurden schon damals zu einem großen Teil von Gebrauchtwagen aus dem Westen gebildet, und der für postsowjetische Städte typische Wildwuchs an Kiosken und Märkten prägte das Stadtbild. Ihre touristische Entsprechung waren kleine private Hotels und Bistros, die alle Spezialitäten des Kaukasus ohne ethnische Einschränkungen anboten, manchmal unter zweifelhaften sanitären Bedingungen, dafür aber hausgemacht. Doch wer das sowjetische Verständnis von Service studieren wollte, hatte in den Restaurants von Sotschi fast zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion noch immer ein Betätigungsfeld. Nur die Lage der Stadt zwischen dem Meer und dem gleich hinter der Küste steil aufsteigenden Kaukasus war von ebenso unveränderlicher wie berückender Schönheit.

          Die olympische Charta eng ausgelegt

          Die Veränderungen, die Sotschi seither durch die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele erlebt hat, haben der niederländische Fotograf Rob Hornstra und der Autor Arnold van Bruggen in „The Sochi Project“ dokumentiert. Seit März 2009 haben sie jedes Jahr mehrere Male die Stadt und die Krisengebiete bereist, von denen sie umgeben ist: den Nordkaukasus, wo sich islamistische Aufständische und Sicherheitskräfte einen blutigen Kampf liefern, und Abchasien, das völkerrechtlich zu Georgien gehört, nach dem Krieg im August 2008 von Russland als Staat anerkannt wurde, aber weiter vom Rest der Welt isoliert ist. Ihre Arbeit bezeichnen die beiden als „slow journalism“: „Manche Geschichten erfährt man nur, wenn man eine Weile in einem Dorf lebt, wenn man nicht nur einmal kommt“, sagt Arnold van Bruggen. Ihm geht es darum, wie sich die komplizierte Geschichte des Kaukasus mit seinen verworrenen ethnischen und politischen Beziehungen, wie sich die rasanten Veränderungen in Sotschi im alltäglichen Leben der Menschen niederschlagen.

          Der dieser Tage erschienene Fotoband „An Atlas of War and Tourism in the Caucasus“ (Aperture, 512 Seiten) ist so etwas wie das Resümee ihrer bisherigen Arbeit, die sie vor allem über Crowdfunding im Internet finanziert haben, wo ein Teil der Texte und Bilder unter www.thesochiproject.org frei zugänglich ist. Es ist zu befürchten, dass das Buch auch ein Schlusspunkt ist, obwohl Hornstra und van Bruggen gern weitermachen würden: Russland verweigert ihnen zurzeit die Einreise. Dazu passt auch, dass im Oktober eine geplante Ausstellung in der bekannten Moskauer Galerie „Winsawod“ unter fadenscheinigen Begründungen abgesagt wurde. Die in der olympischen Charta niedergelegte Zusage, dass über Olympia frei berichtet werden kann, hat in Russland ihre Grenzen, sobald sich der Blick über den Sport hinausrichtet.

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