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Seymour Hersh zum 80. : Ganz große Geschichten

Seymour Hersh in seinem Büro in Washington DC. Bild: Mark Mahaney/Redux/laif

Er deckte das Massaker von My Lai auf und die Folter von Abu Ghraib: Der Reporter Seymour Hersh nimmt sich Zeit und redet mit den richtigen Leuten. Deshalb erfährt er Dinge, die sonst niemand weiß.

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          Möglicherweise hätten wir ohne die Arbeit von Seymour Hersh in den vergangenen fünfzig Jahren heute ein anderes Bild der Vereinigten Staaten und ihrer Politik als Großmacht und von Kriegsverbrechen, die in ihrem Namen verübt wurden. Möglicherweise wäre im Vietnam-Krieg das Massaker von My Lai nie aufgedeckt, möglicherweise wären die Verbrechen an den Gefangenen in Abu Ghraib unter den Teppich gekehrt worden – das heißt, das Werk dieses Reporters, Autors, Journalisten kann gar nicht laut genug gepriesen werden, was auch durch die Übergabe eines Pulitzers bereits 1970 (für die My-Lai-Geschichte) und zahlreicher anderer Preise immer wieder geschah. Denn ihn zu feiern ist auch Selbstfeier, schließlich ist eine Figur wie er, durchsetzungsstark, der Wahrheit verpflichtet und ohne Furcht vor Autoritäten nur in einem Land denkbar, das die Freiheit der Presse hochhält und tatsächlich diese vierte Macht im Staat respektiert.

          Verena Lueken
          Freie Autorin im Feuilleton.

          Die Geschichte des Massakers von My Lai recherchierte Hersh als Freelancer, und obwohl er vorübergehend bei der „New York Times“ im Washingtoner Büro angestellt war und dort an der Aufdeckung des Watergate-Skandals mitarbeitete – für die aber Bob Woodward und Carl Bernstein berühmter wurden –, hat er sich ansonsten an keine Institution fest gebunden. Der „New Yorker“ ist sein Stammhaus, aber nicht der einzige Ort für seine Publikationen.

          Er redet mit dem Mittelbau

          Hersh findet Sachen heraus, weil er mit den Leuten spricht. Nicht mit den Presseattachées, den Agenten, den Verlautbarern, sondern mit Menschen, die in den Apparaten in mittleren Positionen arbeiten, mitkriegen, was gespielt wird, aber nicht unbedingt beteiligt sind. Er macht das seit seinen Anfängen so. Deshalb kann er längst auf ein Netzwerk von Informanten zurückgreifen, die es ihm zum Beispiel ermöglichen, eine Geschichte zu schreiben, in der es um die konkurrierenden Geheimdienste und neue Abteilungen für „besondere Pläne“ im Pentagon ging, die schließlich „Selective Intelligence“ hieß, 2004 im „New Yorker“ erschien und den Lesern klarmachte, dass diese „special plans“, um die sich eine neue Gruppe von Geheimdienstlern im Auftrag von Donald Rumsfeld kümmerte, der Krieg gegen den Irak waren.

          Hersh hat Zeit für diese Geschichten. Die Publikationen, für die er schreibt, wissen, dass eine Story besser wird, wenn der Autor nachdenken, nachhaken, überarbeiten kann. Sie muss belegbar sein, was bei den großen Themen Hershs Menschen, die mit ihm zusammenarbeiten, möglicherweise in Gefahr bringt. Seine Quellen bleiben daher oft anonym, was Kritiker zu der Aussage brachte, Hershs Recherchen bezögen sich aufs Hörensagen und büßten so an Glaubwürdigkeit empfindlich ein. David Remnick, der Chefredakteur des „New Yorker“, aber hat wiederholt bestätigt, für die Geschichten, die in seinem Magazin erschienen, seien ihm ihre Namen alle bekannt. Auch das gehört zur Pressefreiheit: Quellenschutz.

          Ist er etwa verrückt geworden?

          Hershs bisher letzte große Geschichte allerdings haben ihm nicht alle geglaubt. Es ging um Usama Bin Ladin und wie er getötet wurde. Hersh erklärte, die offizielle Version Obamas sei erfunden, weil Pakistan Bin Ladin jahrelang geschützt habe und dann am Sturm auf sein Haus und an seiner Erschießung beteiligt gewesen sei. Dieser Artikel erschien nicht im „New Yorker“, sondern in der „London Review of Books“, deren Website daraufhin zusammenkrachte.

          Ist einer der einflussreichsten investigativen Journalisten des letzten halben Jahrhunderts verrückt geworden? Verschwörungstheorien anheimgefallen? Oder könnte er uns etwas Wahres über den neuerlichen Giftgasangriff in Syrien sagen, wie er es 2013 in „Whose Sarin?“ zum ersten Mal tat, als er eine Verbindung nicht zu Assad, sondern zu Erdogan herstellte? Möglicherweise. Aber erst einmal wird Seymour Hersh heute achtzig.

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