Netflix-Serie „1983“ : Alte Männer müssen sterben
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Revolutionäre im Untergrund: Kajetan (Maciej Musial) und Ophelia (Michalina Olszanska) nehmen es mit dem System auf. Bild: Netflix
Im Jahr 2003 ist der Eiserne Vorhang nie gefallen. Ein Jurastudent und ein abgehalfterter Ermittler wollen herausfinden, warum. Mit etwas mehr Mut zum Spröden wäre die polnische Netflix-Serie „1983“ ein Coup.
Die gute Nachricht vorweg: In dieser historisierenden Dystopie haben die Nazis nicht gewonnen. Die schlechte Nachricht: Der Eiserne Vorhang trennt Europa hermetischer denn je. Zumindest bis in das Jahr 2003, in dem „1983“ spielt – die Serie, welche die vier renommierten Regisseurinnen Agnieszka Holland, ihre Tochter Katarzyna (Kasia) Adamik, Olga Chajdas und Agnieszka Smoczyńska als erstes polnisches Netflix-Original gedreht haben.
Im Drehbuch von Joshua Long sind zwanzig Jahre vergangen, seit am 12. März 1983 in Polen die Köpfe einer nicht namentlich benannten sozialen Bewegung, die den Systemwandel in der Volksrepublik herbeiführen wollte, durch gezielte Bombenanschläge in Warschau, Danzig und Krakau getötet wurden.
In der Folge kann sich Polen zwar nicht vom Kommunismus befreien, prosperiert aber, vor allem technologisch. Wie, das erklärt die Serie zunächst nicht. Im Gefüge der Regimes des Ostblocks hat Polen eine Spitzenposition inne und mischt in der Weltpolitik mit, während der amerikanische Präsident Al Gore den Westen in einen dritten Golfkrieg führt.
Provokante Analogie zur heutigen politischen Situation in Polen
Als Zuschauer lernt man all das während einer Nachrichtensendung. Auch, dass Polen seine traditionell engen Verbindungen zu Vietnam ausgebaut hat: Staatspräsident Ngan ist auf Staatsbesuch in der Hauptstadt, um die Verhandlungen zur geplanten „Freundschaftseisenbahnlinie“ von Saigon nach Warschau voranzutreiben. Am Schluss der Nachrichten folgt der freundliche Hinweis der Partei, aufmerksam zu sein und verdächtige Aktivitäten zu melden, damit „Terroristen“ nicht die polnische „Art, zu leben“, zerstören können.
Als provokanter Kommentar zu dem, was zurzeit in Polen passiert – nur unter umgekehrten Vorzeichen, hin zu einer nationalistischen Politik der Abschottung –, funktioniert das gut. Zumal, wenn man liest, wie Polens echter Vize-Premier Jaroslaw Gowin gerade die umstrittene Justizreform der PiS-Regierung verteidigt: „Wir haben 2018 voraussichtlich fünf Prozent Wirtschaftswachstum. Die Lebenszufriedenheit der Polen ist auf Rekordniveau, die Arbeitslosigkeit so niedrig wie nie. Polen ist ein sehr sicheres Land“, sagt er der „Süddeutschen Zeitung“.
In „1983“ wird die Leiche von jemandem aufgefunden, der sich in den Augen des Staates unter anderem durch das Kopieren, Gestalten und Verbreiten westlicher Schriften wie „Harry Potter und der Stein der Weisen“ sowie George Orwells „1984“ verdächtig gemacht hat. Der stets etwas mitgenommen wirkende Inspektor Anatol (Robert Wieckiewicz) wird stutzig, als die Gerichtsmedizinerin bei der Obduktion Auffälligkeiten feststellt, die nicht zu dem angeblichen Suizid passen. Bei einer Stippvisite im Büro der Staatssicherheit – „bei der kann dir nicht mal Gott helfen“ – muss er feststellen, dass die Akte des Toten nur mit dem Sicherheitslevel eins einsehbar ist, den allenfalls Minister haben.
Unbedarfter, besser frisiert, aber auch um einiges milchgesichtiger kommt Vorzeigeschwiegersohn und Jurastudent Kajetan (Maciej Musial) daher. Gerade hat er noch mit seinem Professor über Recht, Gerechtigkeit und die Unfehlbarkeit der Justiz diskutiert, da drückt dieser seinem Lieblingsschüler beim Abendessen einen Stoß geheimer Mordfall-Akten und das vergilbte Foto einer Hochzeit in die Hand. Auf diesem sind neben dem Professor verdächtig viele Personen zu sehen, die nun Machtpositionen bekleiden. Wenig später ist auch der Professor tot.