BBC-Serie „The Paradise“ : Aschenputtel bekommt einen Job im Schuhladen
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Sie ist ganz ergriffen von ihrem neuen Arbeitsplatz, der Chef ist ergriffen von ihr: Joanna Vanderham spielt in „The Paradise“ das Glückskind Denise Lovett Bild: RTL
Die modernen Märchen des Fernsehens unterscheiden sich kaum vom guten Geschichtsunterricht. Sie handeln vom Alltag der oberen Zehntausend. Die BBC überrascht mit einem Kammerspiel über das Leben vor 140 Jahren.
Die modernen Märchenerfinder der BBC sind tüchtig. Sie kreieren nicht nur immer neue Welten, etwa weil sie phantastische Schauspieler (“Luther“), beliebte Literatur (“Sherlock“) oder merkwürdige Ideen (“Torchwood“) haben. Sie achten auch penibel darauf, alle Winkel auszuleuchten. Nach der Modernisierung von Sherlock Holmes gingen sie jüngst wirklich in die Geschichte zurück, so weit, wie es sich nicht einmal die Konkurrenten des Senders ITV mit „Downton Abbey“ trauten. Und sie waren kühn.
Statt dem Historiendrama um die Familie Crawley, das die Zuschauer mit opulenten Bildern an die historische Schwelle der Weltkriege zurückführt, mit ebenso epischer Tiefe zu begegnen, wartet die BBC mit einem Kammerspiel auf. Es heißt „The Paradise“ und hält absichtlich nicht, was der Name verspricht. Denn alles, was passiert, spielt sich im gleichnamigen Einkaufstempel ab, zu einer Zeit, um 1870, als Konsum noch eine anstrengende Angelegenheit der guten Gesellschaft war. Das Paradies bedeutete auch damals etwas anderes.
1870 ist die Zeit der romantischen Herrschaft
In diese Welt hinein stolpert Denise (Joanna Vanderham), die vom Land kommt, was ihr alle schon an den Schuhen ablesen. Noch bevor sich klärt, ob sie in der Damenabteilung aushelfen darf, nimmt sie Moray (Emun Elliott), der Besitzer des „Paradise“, der aus ebenso kleinen Verhältnissen kommt, was man ihm allerdings nicht mehr ansieht, ins Visier. Was die Blicke bedeuten, die er ihr zuwirft und die sie erwidert, bleibt verborgen. In Morays Figur bahnt sich die Entwicklung des kühl kalkulierenden Managers schon an, noch gefällt er sich allerdings in der Rolle des charmanten Herrschers, der zwar verwitwet, aber jung genug ist, um sein Leben noch einmal neu zu gestalten.
Vielleicht wird es ein Leben mit Denise, vielleicht aber auch mit Katherine Glendenning (Elaine Cassidy). Er ist ihr auf gewisse Weise versprochen. Weil sie aus adligem Hause ist, sein Rang und Namen aber vom Unternehmertum abhängen, lässt sich kaum sagen, welche Früchte solch eine Beziehung trägt. Besser gespielt als von Elaine Cassidy wurde der moderne Nachwuchsadel selten.
Allein in diesen beiden Figuren spiegelt sich die Welt im Umbruch, in der Moray zwar noch bei einer Lordschaft um die Hand von dessen Tochter anhält, gleichzeitig aber schon mit Bonuszahlungen für Huldigungen durch seine Mitarbeiter wirbt. Um den Wandel durch Industrialisierung und Elektrizität zu beschreiben, braucht es darüber hinaus nicht mehr als eine Handvoll Protagonisten und das „Paradise“. Kunden, die es betreten, halten es für einen „Teil des Himmels“, dem Chef erscheint es als „die neue Kirche“.
Liebesgeschichten laufen gut, historische erst recht
Dass das so gebotene Bild, das sich den Romanen von Émile Zola entlehnt, zu einfach ist, braucht den Drehbuchschreiber Bill Gallagher nicht zu stören. Er nimmt sich der Vergegenwärtigung des vergessenen Alltags auf dieselbe Weise an, wie es ein Geschichtslehrer tut - er erzählt vom Leben der oberen Zehntausend. Und damit wird er nicht nur bei den Briten großen Erfolg haben. Liebesgeschichten aus Südengland laufen auch in Deutschland prächtig. Für das britische Fernsehen ist der Schritt in die Vergangenheit auch nicht bloß die Eroberung einer vergessenen, sondern vielmehr einer verlorenen Welt.
Was zur kuriosen Situation führt, dass im vergangenen Jahr ITV den Start einer weiteren historischen Serie auf Anfang dieses Jahres verschieben musste. Es sollte um einen amerikanischen Kaufhausmogul gehen, einen, den es diesmal tatsächlich gegeben hat, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts London eroberte. „Mr. Selfridge“ kam dem Sendestart von „The Paradise“ aber etwas zu nahe. Das deutsche Publikum wird also absehbar wie schon das britische wählen dürfen, in welche Vergangenheit es sich vorm Fernseher einlebt. Eine deutsche Geschichte vor 1914 gibt es für hiesige Fernsehmacher und ihr Publikum unterdessen weiterhin nicht.