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Schlagerfestival Sanremo : Selenskyj unerwünscht?

Beim Welternährungsgipfel im September 2022 war Selenskyjs Videoansprache noch erwünscht wie bei vielen anderen Gelegenheiten. Bild: dpa

Das Schlagerfestival von Sanremo bringt seit Generationen die Generationen in Italien zusammen. Doch jetzt herrscht Streit. Der Anlass: die geplante Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten.

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          Nächste Woche ist im Ariston-Theater von Sanremo wieder „Festival della Canzone Italiana“. Bei dem Anlass werden seit 1951 die schönsten italienischen Lieder des Jahres zu Gehör gebracht. Doch Sanremo ist viel mehr als ein Schlagerfestival: Es ist das jährliche Lagerfeuer der Populärkultur, bei dem sich die Nation ihrer selbst vergewissert. Sanremo ist zugleich Gradmesser und Treiber kulturell-gesellschaftlicher Entwicklungen.

          Matthias Rüb
          Politischer Korrespondent für Italien, den Vatikan, Albanien und Malta mit Sitz in Rom.

          Veranstaltet und übertragen werden die fünf Abende vom öffentlich-rechtlichen Sender RAI, im ersten Fernsehprogramm, dazu im Radio sowie übers Internet. Die Einschaltquoten sind erstaunlich. Von Dienstag bis Samstag sitzen jeweils bis zu 14 Millionen Italiener vor dem Fernseher. Wenn am Abschlussabend der Sieger des Wettbewerbs bestimmt wird, erreicht RAI Uno einen Marktanteil von bis zu 70 Prozent. Die Zuschauer sind im Durchschnitt zwanzig Jahre jünger als sonst zu dieser Sendezeit. Sanremo bringt seit Generationen die Generationen zusammen.

          Das Ariston-Theater von Sanremo: Hier findet das „Festival della Canzone Italiana“ statt.
          Das Ariston-Theater von Sanremo: Hier findet das „Festival della Canzone Italiana“ statt. : Bild: picture alliance / Zoonar

          Es gibt einen Hauptmoderator, der zugleich „künstlerischer Direktor“ ist. Seit 2020 ist das der Radio- und Fernsehmoderator Amedeo Sebastiani, bekannt unter seinem Künstlernamen Amadeus. Für die einzelnen Abende lädt der „Presentatore“ Ko-Moderatoren ein. Dieses Jahr hat Amadeus als ständigen Ko-Moderator Gianni Morandi ausgewählt. Der Sänger und Schauspieler, Jahrgang 1948, ist seit mehr als sechs Jahrzehnten im Geschäft und die quicklebendige Erinnerung ans gute alte Belpaese, als die Wirtschaft brummte und Italiens Zukunft so schön leuchtete, wie Land und Leute schon immer sind.

          Für den zweiten und den letzten Abend hat Amadeus die mit rund 28 Millionen Followern erfolgreichste Influencerin des Landes Chiara Ferragni als Ko-Moderatorin eingeladen. Ferragni, Jahrgang 1987, präsentiert sich mit ihrem Ehemann, dem Rapper Fedez, sowie den beiden kleinen Kindern als Posterfamilie für das gute neue Italien: migrantenfreundlich, klimabewusst, woke. In Sanremo wird Ferragni ihre Kampagne gegen den Femizid in den Vordergrund stellen. Jede Woche wird in Italien durchschnittlich mindestens eine Frau umgebracht, dieses Jahr sind es schon fünf. In aller Regel ist der einstige Partner der Täter.

          Volkspädagogische Einladungspolitik?

          Für den dritten Abend hat Amadeus Paola Egonu verpflichtet. Die 24 Jahre alte Volleyballerin ist Tochter nigerianischer Einwanderer. Sie bekannte sich 2018 zu ihrer lesbischen Partnerin und hatte 2022 ein zweites Coming-out als Bisexuelle. Wegen fortgesetzter rassistischer Beleidigungen in den sozialen Netzwerken erklärte Egonu vor Monaten ihren (inzwischen zurückgenommenen) Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Egonu wird ihre Landsleute daran erinnern, dass Schwarzen in Italien nicht nur im Sport, sondern auch im Alltag Rassismus entgegenschlägt.

          Doch der Protest gegen die gleichsam volkspädagogische Einladungspolitik von Amadeus entzündete sich an der Tatsache, dass Amadeus den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Abschlussabend eine zweiminütige Friedensbotschaft aus Kiew verlesen lassen will. Selen­skyj hatte schon bei den Golden ­Globes sowie bei den Filmfestivals von Cannes und Venedig über Video um Solidarität und Unterstützung gebeten. Nun erheben in Italien selbst ernannte Friedenspolitiker verschiedener Couleur mit ähnlichen Argumenten ihre Stimme gegen die Teilnahme Selenskyjs in Sanremo.

          Mit der Ansprache werde der ukrainische Präsident seinem Volk gewiss keinen Frieden verschaffen, eher das Gegenteil, ätzte Matteo Salvini, Parteichef der rechtsnationalen Lega und notorischer Putin-Bewunderer. Beppe Grillo, Gründer der linksökologischen Fünf-Sterne-Bewegung, schalt Selenskyj vorab für dessen angebliche „Kriegspropaganda“. Eine Petition gegen die „Militarisierung“ des Singfests ist im Umlauf, die Zahl der Unterzeichner unter Künstlern, Intellektuellen und Diplomaten wächst. Amadeus und die RAI wollen an der Einladung Selenskyjs zum 11. Februar festhalten. Der Philosoph und ehemalige Bürgermeister von Venedig Massimo Cacciari hat die RAI für ihre Standhaftigkeit gelobt und die selbst ernannten Pazifisten der russophilen Scheinheiligkeit geziehen. „Gewiss, der Krieg ist grausam, das wissen wir seit Jahrtausenden“, sagte Cacciari. „Aber es reicht nicht, dies auszusprechen, um ihn zu beenden.“

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