TV-Kritik: Sandra Maischberger : „Zwischen Märchenstunde und Angstmacherei“
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Sandra Maischberger diskutiert mit ihren Gästen über den Migrationspakt. Bild: WDR/Max Kohr
Heute diskutiert der Bundestag über den Migrationspakt. Bei Sandra Maischberger war zu erleben, warum selbst eine solche sinnvolle Vereinbarung in den Strudel des grassierenden politischen Misstrauens geraten konnte.
Eine der wichtigsten politischen Legitimationsquellen ist Glaubwürdigkeit. Sie verlangt einen Zusammenhang von Begründung und Handlung herzustellen. Gelingt das nicht, werden selbst sinnvolle politische Maßnahmen in den Strudel eines grassierenden Misstrauens über die Absichten handelnder Akteure gezogen. Nichts anderes passierte mit dem Migrationspakt der Vereinten Nationen, der heute auf der Tagesordnung des Bundestages steht. Warum das so ist, konnten die Zuschauer schon gestern Abend bei Sandra Maischberger erleben. Dabei brachte Cem Özdemir (Grüne) das Problem eigentlich gut auf den Punkt. Unter Helmut Kohl hätten wir über den Migrationspakt „keine fünf Minuten diskutiert“. Nur hätte eben „2015 stattgefunden“, so seine Erklärung. Was vor drei Jahren passiert ist, war ein „schwerer Vorfall, wo auch viele Fehler passiert sind“. So formulierte das Manfred Weber (CSU), Spitzenkandidat der EVP für die Europawahlen im kommenden Jahr.
Es hat somit im Jahr 2015 ein schwerer Vorfall stattgefunden, um das einmal schwarz-grün zusammenzufassen. Das ginge auch anders. Es passierte eine „moderne Tragödie mit unbeabsichtigten Folgen: Ertrunkene, Flüchtlinge als Geiseln, der Brexit und die Aussicht einer erhöhten Instabilität Syriens nach Kriegsende. Und wofür? Vier Millionen Flüchtlinge hausen weiterhin ohne angemessene Betätigungsmöglichkeiten in den regionalen Asylländern. Unterdessen müssen knapp eine Million der qualifiziertesten Syrer in Europa untätig herumsitzen und kosten 135 Dollar für jeden Dollar, der den Menschen in den Asylländern zukommt. Will ein Politiker das, was passiert ist, wirklich ernsthaft verteidigen?“ Diese vernichtende Kritik kam gestern Abend keineswegs von Alexander Gauland (AfD). Die Autoren waren nicht eingeladen. Das Zitat stammt aus dem Buch „Gestrandet“ von Alexander Betts und Paul Collier, beide Professoren an der Universität Oxford. Es ist im Frühjahr 2017 erschienen und beleuchtet zwei Aspekte. Zum einen ist es eine fundamentale Abrechnung mit der bisherigen weltweiten Flüchtlings- und Migrationspolitik. Dazu gehört die desaströse Rolle der deutschen Politik im Spätsommer 2015. Zum anderen ist es die Suche nach einem sinnvollen Neuanfang. Dort finden sich über den Migrationspakt interessante Formulierungen. Es wäre abzuwarten, „ob diese wohlklingenden Verpflichtungen das Papier wert sind, auf dem sie stehen, und das Verhalten von Regierungen ändern werden“.
Mehr müsste man über den Migrationspakt nicht sagen. Nur sind Talkshows keine akademischen Oberseminare und ist Politik etwas anderes als die nüchterne Betrachtung der Wirklichkeit. Sie handelt in ihrem Bemühen um Legitimation mit Emotionen. Dann kann der Journalist Claus Strunz seine Ahnungslosigkeit über die Funktionsbedingungen des Völkerrechts in hübsche Vergleiche über die Verbindlichkeit von Liebesbeziehungen kleiden. Oder die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan (SPD) mit bemerkenswerter Schlichtheit behaupten, die Existenz von Pullfaktoren bei Migrationsbewegungen wäre „wissenschaftlich widerlegt“. Nach der Sichtweise müssten Betts und Collier keine Wissenschaftler sein. Währenddessen versuchte sich Gauland für die Bundestagsdebatte warmzulaufen. In seiner Perspektive wird der Migrationspakt zum größten Pullfaktor der Weltgeschichte aufgeblasen. Die UN-Bürokraten sind wahrscheinlich selber erstaunt, welche Wirkung ihre Bemühungen in der wirklichen Welt plötzlich haben sollen.