RTL spezial zu Afghanistan : Sie föhnt sich, und in Kabul fällt der Strom aus
- -Aktualisiert am
RTL-Reporterin Liv von Boetticher in Kandahar Bild: RTL
Im RTL-Spezial „60 Tage Frauenhass: Eine Reporterin bei den Taliban“ zeigt Liv von Boetticher, wie man eine Auslandsreportage nicht drehen sollte.
Einige Jahre lief bei RTL die Reihe „Das Jenke-Experiment“. Untertitel: „Der macht das wirklich“, und das war Programm. Jenke von Wilmsdorff, Reporter des „Extra“-Magazins, unterzog sich in jeder Folge einem anderen Selbstversuch, mit „gesellschaftlich relevantem“ Anstrich. Ob LSD-Konsum, Alkoholmissbrauch, die Simulation von Armut oder extremer Hungererfahrung – im „Jenke-Experiment“ ging der Protagonist über physische und psychische Grenzen, schwitzte, halluzinierte, litt und ließ dabei seinen Gefühlen freien Lauf. Zu den harmloseren Unternehmungen gehörte es, sich als Pflegefall-Darsteller Arme und Beine eingipsen zu lassen. Für das „Experiment“, eine alleinerziehende Mutter zu mimen, gab es 2012 tatsächlich sogar einen Fernsehpreis des niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (Juliane-Bartel-Preis).
Reporterin auf Selbsterfahrungstrip
Sieht man RTL-Reporterin Liv von Boetticher in der Presenter-Doku „RTL Spezial 60 Tage Frauenhass: Eine Reporterin bei den Taliban“ bei ihrem Selbsterfahrungstrip in Afghanistan zu, erinnert das in vielen Situationen geradezu schmerzlich an das „Jenke-Experiment-Format“. Im Mittelpunkt steht die Vermittlung starker Gefühle. Das dramaturgische Verfahren ist durchweg sympathetisch, zahlreiche Drohnen-Luftaufnahmen suggerieren aufklärende Übersicht. Schon der Titel „60 Tage Frauenhass“ verrät, worum es geht. Genauso gut könnte es „60 Tage Heldinnenmut“ oder „60 Tage Selbstgefährdung“ heißen. Der einstündige „Horrortrip“ in die Abgründe gesellschaftlich archaischer Unterdrückung geht los mit Sachenpacken, Team einsammeln, Flughafenimpressionen. Der Plan in Grundzügen: Ein Jahr nach der Übernahme Afghanistans durch die Taliban wolle man, besser gesagt: frau, vor Ort erfahren, wie es Frauen dort jetzt gehe. Chris Klawitter, Producer, der zwanzig Jahre in Afghanistan gelebt hat, wie es heißt, organisiert in Kabul die Miete eines Hauses in relativ sicherer Umgebung, ein Kameramann vervollständigt das Team.
Es geht um Alltagserfahrungen, und dagegen ist überhaupt nichts zu sagen, im Gegenteil. Wie lebt es sich tatsächlich? Wie steht es mit dem Schulbesuch der Mädchen, der wachsenden Armut im Land, der Verdrängung von Frauen in die private Sphäre? Alltagserfahrungen aber werden hier nur am Rande gezeigt, stattdessen umso mehr Grenzerfahrungen und zumindest fahrlässig erzeugte Eskalationen („dieser Drehtag Ende Februar wird fast in einer Katastrophe enden“).
Die Begegnungen mit afghanischen Frauen sind interessant, etwa mit einer Sportlerin des aufgelösten Volleyballnationalteams, oder mit einer Gynäkologin, die die Behandlung von Verletzungen im Intimbereich mit Aufklärung und persönlichen Schutzempfehlungen ihrer Patientinnen verbindet, sie ergeben sehenswerte Einblicke in die Situation von vor einem halben Jahr. Anderes wirkt schon befremdlicher. Es gelingt dem Team, schwer bewaffnete Talibankämpfer zur Verkehrskontrolle zu begleiten. Mit dem Fahrer des Pick-ups führt die Reporterin dabei ein Interview zu seiner Einstellung vom Schulbesuch von Mädchen. Leider gäbe es nicht genug Schulen, beklagt der Gesprächspartner. Meint er das ernst? Dass ein westliches Fernsehteam mit Drehgenehmigung der Taliban, insbesondere deren wortführende Frau, nicht im freien Austausch der Argumente mit zugewiesenen Regime-Vertretern diskutieren kann, das verwundert vermutlich außer der Reporterin wenige.
Vom Frauendasein-Selbstexperiment zur demonstrativ erzeugten lebensgefährlichen Situation ist es in „60 Tage Frauenhass“ dann nicht mehr weit. Bei einer Fahrt in die Provinz Kandahar, wo Frauen, wenn überhaupt, ausschließlich mit Burka zu sehen sind, hält das Team auf einem Dorfplatz. Damit die Reporterin mit Hidschab-Kopftuch, das den hellblonden Scheitelansatz zeigt, aussteigt und sich umsieht. Es sei kein Witz, raunt Afghanistan-Kenner Chris: „Die steinigen uns.“ Statt aber zum Rückzug zu raten, empfiehlt er der Reporterin, den Gewürzeinkauf beim Stand zügiger zu erledigen und den Übersetzer bezahlen zu lassen. Schnell finden sich zahlreiche bedrohlich aussehende Männer ein, es entsteht eine Art Einkesselung. Später, als der Einkauf im Auto verstaut ist und die spektakulären Gefahrenbilder im Kasten, berichtet die Reporterin über ihre Angstgefühle.
Auch in anderen Szenen bleibt ein Gschmäckle. Anstatt zahlreicher Selbstexperimente auf der Skala von emotional bis brandgefährlich wären Zusatzinformationen hier und da nützlicher gewesen. Woher beispielsweise stammen die tausend Dollar für das Material, mit denen die zupackende ehemalige Sozialarbeiterin Laila eigenhändig innerhalb einer Woche eine Schule baut? Von einer Hilfsorganisation? Von der Produktionsgesellschaft dieser Reportage? Die Reporterin freut sich über „strahlende kleine Gesichter“, auch wenn der Unterricht noch gar nicht beginnen kann. Statt augenfälliger Inszenierung von Kinderjubel und Gefühlsüberschwang von Freude zu „Hass“ und Schrecken hätte mehr Faktengrundlage dem Film gutgetan. Wie man in Afghanistan schwierige Gespräche seriös führt, das hat ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf vielfach gezeigt. Emotionen sind dabei Teil der berichteten Alltagswirklichkeit, aber nicht ihre Hauptsache. In „60 Tage Frauenhass“ erfährt und sieht man stattdessen, dass es in Kabul selbst im besseren Wohnviertel zu Stromausfall führt, wenn Liv von Boetticher ihr Haar föhnt.
RTL Spezial 60 Tage Frauenhass läuft heute um 22.35 Uhr bei RTL.