Rainald Goetz : Verachtung für alle
- -Aktualisiert am
Kein Thema durchgehalten, keine These zugespitzt - Rainald Goetz Bild: picture-alliance / dpa
Rainald Goetz schließt sein Internettagebuch „Klage“. Sieben Jahre hatte er sich an einem Roman versucht, sieben Jahre nichts veröffentlicht. Dass ihm im Netz gelang, was auf dem Papier scheitert, ist kein Zufall.
Es wird ein großes Fest gewesen sein, gestern Nacht in der Oranienburger Straße 189, schließlich waren explizit "alle" sogar "herzlich" eingeladen, um das Ende von Rainald Goetz' Internettagebuch "Klage" auf Vanityfair.de zu feiern; ja, und dann kommen zumindest viele.
Rainald Goetz, der Gastgeber, wird alles mitbekommen haben vom Fest, ja er wird wieder viel zu viel mitbekommen, es notiert oder vor sich hin gemurmelt haben. Die Einladungen, Zettel vom Fußboden, Notizen, Flugblätter sowie die Berliner Lokalzeitungen des Tages werden in einer der vielen Tüten landen, in denen Material bei ihm aufbewahrt wird, eine Tüte Stoff, die er sich dann mal vornehmen wird, beizeiten, und wenn es ihm gutgeht. Eine mehr.
Manisch und verhuscht zugleich
Rainald Goetz, ein seit Jahrzehnten legendärer deutscher Schriftsteller von vierundfünfzig Jahren, kämpft mit dem Material seiner Zeitgenossenschaft, im doppelten Sinne: Manchmal findet er in aktuellen Zitaten seine Waffen, oft aber ringt und hadert er mit der schieren Fülle des Stoffs. Sein Stoff ist nämlich alles: Berlin, die Politik, die Kultur, die Wissenschaft, die Psychiatrie, das Recht, er selbst in diversen Rollen sowie natürlich das, was die Leute so reden.
In den vergangenen Jahren konnte man ihn auf der Pressetribüne des Bundestages sehen, ganz vorn, wie er in ein Schulheft schrieb, manisch und verhuscht zugleich, und außerdem auf Partys, Vernissagen, Konzerten, Lesungen, Debatten, eben überall dort, wo was los sein könnte, wo noch mehr Stoff abfallen könnte, für noch mehr Tüten. Und man erwartete seine Texte mit Spannung, denn Goetz ist einer der Großen. Aber es ergeben sich auch Probleme.
Kein Thema durchgehalten, keine These zugespitzt
Zu Rande kommen. Das war ein Ausdruck, den mein sogenannter Doktorvater immer benutzte, es war ihm aber die wichtigste Kategorie, wenn er sich Sorgen machte, fragte er immer, hastig, wie man fragen würde: Hast du noch Geld? - Kommst du zu Rande?
Rainald Goetz kommt nicht zu Rande: Sieben Jahre hat er sich an einem Roman versucht, sieben Jahre nur gelesen, nichts veröffentlicht. 1999 endete sein Internettagebuch "Abfall für alle". Acht Jahre später begann er die Sache erneut, diesmal im Dienste des Farbmagazins "Vanity Fair". Dass ihm im Netz gelingt, was auf dem Papier scheitert, ist kein Zufall. Das Internet passt zu Goetz, was in diesem Fall für beide Seiten keine gute Nachricht ist. Jedes geistige oder literarische Problem lässt sich weg- und weiterklicken. Kein Thema ist durchgehalten, keine These zugespitzt, die Figuren werden voller Verachtung karikiert oder bleiben schlicht uninteressant. Rainald Goetz findet für seine immense literarische und intellektuelle Ambition keinen passenden Gegenstand, und er bedient sich der freien Form, um es zu vertuschen.
Oder er flippt aus