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Newsletter-Boom : Mit Abonnenten gegen Algorithmen

Bild: Kat Menschik

In Amerika machen prominente Journalisten mit E-Mail-Newslettern spektakuläre Umsätze. Kann der Direktverkauf von Texten an Abonnenten auch in Deutschland funktionieren?

          6 Min.

          Es klingt, als hätte jemand die Uhr zurückgedreht, fünfzehn, zwanzig Jahre. Wie zu den Zeiten, in denen die Entwicklung der Blogs als Emanzipation von alten Medieninstitutionen euphorisch begrüßt wurde, soll wieder einmal der Diskurs befreit werden, soll alles freier, direkter, unabhängiger werden. „Newsletter“ heißt das neue Zauberwort: Jeder kann sein eigener Verleger werden, versprechen Plattformen namens Substack oder Steady. Was, einerseits, keine besonders spektakuläre Neuigkeit ist, schließlich braucht man schon lange keine besonderen Ressourcen mehr, um das Internet vollzuschreiben. Und andererseits kommen die Parolen diesmal mit Zahlen daher, die in den Ohren krisengeplagter Journalisten wie ein Traum klingen:

          Harald Staun
          Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

          Auf der amerikanischen Plattform Substack erwirtschaften die zehn erfolgreichsten Autoren und Autorinnen mittlerweile 15 Millionen Dollar jährlich mit ihren Briefen an die Leser. Ganz oben auf dem „Leaderboard“ steht die Historikerin Heather Cox Richardson, das Poster-Girl der neuen Medienrevolution, die mit ihren „Letters from an American“ mittlerweile rund zwei Millionen Dollar jährlich verdienen dürfte.

          Dass ausgerechnet das etwas angestaubte Format des Newsletters die Antwort auf die lange und bisher ziemlich frustrierende Suche nach einem Geschäftsmodell für Journalismus im Internet sein soll, ist vielleicht die größte Überraschung. Die Anbieter führen seine Beliebtheit genau auf dieses vergleichsweise zurückhaltende Auftreten zurück, auf das Angebot eines Gegengift zum lauten und durch die Algorithmen der sozialen Medien aufgepeitschten Wettbewerb um reißerische Nachrichten und steile Thesen. „Einer der Gründe, warum wir Substack gegründet haben, ist, dass wir frustriert darüber waren, wie sehr die Qualität der Diskussion in den sozialen Medien gesunken ist. Wir sind in den sozialen Medien dümmer als im echten Leben“, schreibt Substack-Mitbegründer Hamish McKenzie im Firmenblog.

          Substack dagegen sei als „ruhiger Ort, der zum Nachdenken anregt“, entworfen worden, frei von Anzeigen und Clickbait, ein Ort, an dem jeder noch ohne Manipulation durch digitale Psychotricks entscheiden könne, welche Informationen er in seinen Kopf lasse. Der ehemalige Technik-Journalist McKenzie war für ein gutes Jahr lang „Lead Writer“ beim Autohersteller Tesla, bevor er 2017 mit den Softwareentwicklern Chris Best und Jairaj Sethi das Unternehmen gründete.

          Erfolgsrezept Durchschnittlichkeit 

          Ob tatsächlich so viel Idealismus hinter der Plattform steckt oder vor allem ein guter Geschäftssinn, auf jeden Fall hat Substack einen Nerv getroffen: 500.000 zahlende Abonnenten verzeichnet die Website heute, alleine in den vergangenen zwölf Monaten wuchs diese Zahl um das Fünffache. Thematisch decken die Newsletter eine Bandbreite ab, die von Investoren-Tipps von Profis bis zu Insiderberichten über die Eishockeymannschaft der Arizona Coyotes reichen, vom „Brown Girl Bookshelf“ mit Literaturempfehlungen südostasiatischer Schriftsteller bis zu jüdischen Kochrezepten. Stilistisch schlägt sich der direkte Draht zu den Abonnenten oft in einem persönlichen und freundlichen Ton nieder, schließlich sprechen die Autoren hier zu ihren Fans.

          In dieser Hinsicht ist Richardson durchaus paradigmatisch: Die 59 Jahre alte Geschichtsprofessorin vom Boston College fasst täglich das politische Geschehen zusammen und erklärt parlamentarische Debatten mit einer an Gleichgültigkeit grenzenden Distanz. Im aufgeheizten politischen Klima ist diese Objektivität offensichtlich eine Marktnische. Sie übersetze „aktuelle Ereignisse in normale Sprache“, schreibt Richardson auf ihrer Facebook-Seite. Vor allem ihre engagierte Community, eine „Gemeinschaft durchschnittlicher Amerikaner“ unterscheide ihr Projekt von klassischem Journalismus. Diese Community, das sind vor allem, wie sie selbst sagt, andere Frauen ihres Alters, denen selbst der Ton seriöser amerikanischen Zeitungen zu krawallig geworden ist und für die Richardsons Appelle zur Versöhnung auch eine Art therapeutische Wirkung haben.

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