ARD-Nachrichten : Wo zeigt der Kompass denn hin?
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Nachrichten den ganzen Tag: Bildschirme in der Regie der „Tagesschau“-Redaktion in Hamburg. Bild: dpa
Die „Tagesschau“ feiert sich als vertrauenswürdige Marke, die niemandem eine Meinung vorschreibt. Doch die Berichterstattung über das Verbrechen in Kandel gibt Anlass zu deutlicher Kritik.
Die „Tagesschau“ meldet einen Rekord. 10,18 Millionen Zuschauer haben die Nachrichtensendung im vergangenen Jahr im Schnitt gesehen. „Nie zuvor“ seit dem Start vor 65 Jahren, teilt der Norddeutsche Rundfunk mit, „wurde ein Jahreswert jenseits der Zehn-Millionen-Marke gemessen“. Der Marktanteil der „Tagesschau“ lag bei 36 Prozent. „Immer mehr Menschen“, sagt der NDR-Intendant Lutz Marmor, schätzten die Sendung als „wichtigen Kompass in unserer komplizierten Welt“. „Gerade in Zeiten, in denen gesellschaftliche Fliehkräfte stärker werden, bekommt ein ,Lagerfeuer‘ wie die ,Tagesschau‘ immer größere Bedeutung“, ergänzt Kai Gniffke, der erste Chefredakteur der Nachrichtenredaktion ARD-aktuell. „In der Flut der Informationsangebote“ suchten „die Menschen offenbar verstärkt nach einer vertrauenswürdigen Marke, die unabhängig informiert und niemandem eine Meinung vorschreibt.“
Eine Nachricht allerdings suchten die Zuschauer der „Tagesschau“ am 27. Dezember 2017 vergeblich – die der Ermordung der fünfzehnjährigen Mia, die in einem Drogeriemarkt der pfälzischen Kleinstadt Kandel erstochen wurde. Als mutmaßlichen Täter hat die Polizei den aus Afghanistan stammenden, angeblich ebenfalls fünfzehn Jahre alten Asylbewerber Abdul D. festgenommen. Die Staatsanwaltschaft hat einen Haftbefehl wegen Totschlags gegen ihn erlassen.
Eine „Beziehungstat“?
„Eine ganz fürchterliche Tat“, über welche die „Tagesschau“ gleichwohl nicht berichte, erklärte der zweite Chefredakteur von ARD-aktuell, Marcus Bornheim, tags darauf im Blog der Redaktion. Denn man müsse „einen professionellen Blick auf diese Tat richten“. Aus diesem „professionellen“ Blickwinkel erschien das Verbrechen als eine „Beziehungstat“, und über „Beziehungstaten“ berichteten „Tagesschau“ und „tagesschau.de“ nicht, „zumal es hier um Jugendliche geht, die einen besonderen Schutz genießen“. Motiv und Umstände seien noch unklar, hieß es, die Kollegen vom Südwestrundfunk seien an der Sache dran, man werde den Fall „weiter beobachten“, und zwar „mit dem journalistischen Knowhow“, das geboten sei. Dieses Knowhow gebot dann wenig später, am 28. Dezember um 19.52 Uhr, den Nachtrag, dass die „Tagesschau“ um zwanzig Uhr doch „eine kurze Meldung zu der Tat in Kandel machen“ werde.
Eine kurze Meldung zu einer „Beziehungstat“? Unter „Jugendlichen“? Nach Ansicht eines Medienredakteurs der „taz“ gibt es da über einen Zweizeiler hinaus eigentlich nichts zu berichten, schon gar nicht über die Herkunft des Täters, schließlich fehle es dafür am nötigen „Sachbezug“. Den allerdings gab es in diesem Fall ziemlich schnell, und es wurde auch ziemlich schnell klar, um was für eine besondere „Beziehungstat“ es sich hier handelt: Der mutmaßliche Täter kam als Asylbewerber nach Deutschland, wurde von der Familie des Mädchens, das er erstach, aufgenommen, ließ von der Fünfzehnjährigen nicht ab, auch nachdem diese die Beziehung mit ihm beendet hatte, wurde in einer 35 Kilometer entfernten Einrichtung untergebracht, wegen Belästigung von der Familie angezeigt, von der Polizei einer „Gefährderansprache“ unterzogen, am selben Tag tötete er das Mädchen.
Die Menschen in Kandel sind geschockt, das ganze Land schaut auf diese Tat, so wie zuletzt auf den Mord an der neunzehnjährigen Medizinstudentin Maria L. in Freiburg. Politiker drücken ihr Entsetzen aus, die AfD und rechte Gruppen wissen den Fall für sich zu nutzen, was wiederum die entsprechenden Reaktionen zeitigt. Der Bezirksbürgermeister von Kandel, Volker Poß (SPD), warnt vor Fremdenfeindlichkeit, ruft zu Zurückhaltung und Sachlichkeit auf und bittet um Anteilnahme.