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Zum Tod von Wolfgang Hagen : Nomade in seinem Lebensdreieck

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Wolfgang Hagen, Medienwissenschaftler und Rundfunkreformer Bild: Vario

Immer mit dem Wohnmobil unterwegs: Der Rundfunkmanager und Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen verband mühelos kulturwissenschaftliche Theorie, technisches Verständnis und organisatorische Reformpraxis miteinander.

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          Wenn er mit seinem Wohnmobil an den Straßen seiner Freunde einen Parkplatz zum Übernachten gefunden hatte, mochte es so spät geworden sein, wie es wollte – es folgte in jedem Fall ein sehr langer Abend. Kam er in Begleitung seiner Ehefrau Nathalie Wappler, der jetzigen Direktorin des Schweizer Rundfunks und Fernsehens, waren die Abende nicht kürzer. Kurzweilig waren sie immer. In seinem Lebensdreieck Zürich, Berlin, Lüneburg legte er immer wieder Tausende Kilometer zurück – behaust, behütet und klug beschallt in seiner eindrucksvollen rollenden Heimat. Die Rede ist von Wolfgang Hagen – in den vergangenen zehn Jahren Professor und Seniorprofessor für Medienwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg.

          Als ich ihn Ende der Neunzigerjahre kennenlernte, fragte er wegen einer Möglichkeit zur Habilitation an der Universität Basel an. Er war auf der Suche nach einem damals seltenen disziplinären Doppel: Geschichte und Medienwissenschaften. Der Anfrage legte er einen packenden Ausweis bei: seine dann 2005 gedruckte große Untersuchung über die Geschichte des Hörfunks in Deutschland und den USA. Die ehrwürdige Basler Philosophische Fakultät, damals soeben mit dem Fach Medienwissenschaften mehr versehen als geschmückt, folgte ihm ohne jedes Murren. Denn die Arbeit bot alles, was die Faszination Wolfgang Hagens ausmachte: hohes theoretisches und kulturwissenschaftliches Vermögen, gepaart mit geradezu einschüchternden materiell-technischen Analysen und weitreichender klassisch sozialwissenschaftlicher Fundierung.

          Überwältigend originell

          Vor allem aber war ihr Autor überwältigend originell. Komplexe Verschränkungen zwischen Technik, Technologie und Kultur vermochte Wolfgang Hagen wie kaum ein anderer anschaulich, ironisch, heiter zu entwirren. Ob es um die „Medialität der Elektrizität“, das vermeintliche „digitale Bild“, die „Entropie der Fotografie“ oder um die „Leere“ und psychotechnische Grundlagen von „Metaxy“ als notwendige Distanz jedweder Medialität geht – er fand stets den Schlüssel zur Erhellung jener technologisch-abstrakten „un-heimlichen“ Sphäre der uns nun unumkehrbar umschlingenden Welt aus mathematisierter Elektrizität.

          Hagen öffnete mit diesem Schlüssel die unsichtbaren Verbindungen zwischen scheinbar verschütteten Urgründen der Geistesgeschichte und der Präsenz der „Apparaturen“, indem er deren Verankerungen in aristotelischer Logik, scholastischer Vernunft, nominalistischer Abstraktion, spekulativer Metaphysik der Romantik oder kommunikativem Spiritismus der Spätaufklärung nachwies. Allen Apparaten, so zeigte er, wohnt historisches Erinnern bei. So betrachtet wird für ihn das Smartphone zu einem Geschichtsspeicher, der die Historie beschleunigter Rechensysteme und die ihnen zugrunde liegenden mathematischen Theorien verbirgt. Zugleich aber vermag er die Defizite solcher Systeme nachzuweisen. So lässt für ihn die einseitige Visualisierung der Kommunikation substantielle zivilisatorische Potentiale versiegen, insbesondere die Fähigkeit symbolischen Verstehens und damit die Deutung komplexer Weltzusammenhänge. Zugleich transzendiere unter dem Eindruck der um sich greifenden Kommunikation der Zeichen die „Ökonomie der Dinge“ zu einer bedrohlich entgrenzten „Ökonomie der Daten“ – unkontrollierbar, strukturell und sozial asymmetrisch.

          Vor und gleichzeitig mit seinen medien- und wissenschaftstheoretischen Wendungen war Wolfgang Hagen ein bedeutender Akteur des Rundfunks – zunächst in vielfältigen Funktionen bei Radio Bremen, sodann insbesondere als Reformer und Gestalter des Deutschlandradios Kultur. Für diesen aus dem RIAS und den Ostberliner Resten des DDR-Rundfunks hervorgegangenen Bruder des Deutschlandfunks schuf Wolfgang Hagen ein 2005 auf Sendung gehendes neues Magazinformat, das als „Radiofeuilleton“ einen umfassenden neuartigen Typus des Kulturradios entwickelte. Dessen Hochzeit endete zwar 2014, speist aber noch immer den umfassenden Kulturbegriff des heute wieder ins Spartenprogramm zurückgeführten Senders DLF Kultur.

          Pionierzeit im Merve Verlag

          Unvergessen bleibt Hagens Pionierzeit im Gründerkollektiv des Merve Verlags. Von 1970 bis 1972 war er in diesem idealistischen Unternehmen zur Bildung eines Forums materialistischer Sozial- und Geschichtsphilosophie als Verlagsleiter und Lektor präsent. Seine berühmte provozierende Exegese des Merve Bandes 54 zu Jacques Rancières Text „Wider den akademischen Marxismus“ verteidigte dessen Ablehnung einer akademisch immanenten Marxismusexegese. Dieser Text enthält schon viel von dem, was den späteren Wolfgang Hagen ausmachen sollte: seine eindrucksvolle Fähigkeit, die Dinge neu, vor allem ohne jede Autoritätsgeste zu betrachten und unabhängig zu sein.

          Insofern war auch das Wohnmobil die ihm angemessene Behausung. Verkörpert es doch das schon von Nietzsche apostrophierte Glück unabhängiger Denker über keinen Hausbesitz zu verfügen und nomadisch zu leben. Am 17. Februar ist Wolfgang Hagen im Alter von 71 Jahren in Zürich gestorben.

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