https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/maybrit-illner-entsetzliche-nachrichten-zur-erwarteten-offensive-18920407.html

TV-Kritik zu „Maybrit Illner“ : Brutale Prognosen mit Blumengesteck

Goslar als erhöhte Warte: Unter den Augen von Sigmar Gabriel versammelten sich um Maybrit Illner von rechts nach links Carlo Masala, Amira Mohamed Ali, Marie Agnes Strack-Zimmermann und Adam Tooze. Bild: ZDF/Svea Pietschmann

Weissage uns die militärische Zukunft: Während Sigmar Gabriel wie ein Wahrsager aus entrückter Sphäre agierte, gab es bei Maybrit Illner entsetzliche Nachrichten zur erwarteten ukrainischen Offensive.

          3 Min.

          Aus Goslar war Sigmar Gabriel zugeschaltet. Aber was heißt zugeschaltet? Das Ensemble wirkte so, als seien die anderen Teilnehmer der Maybrit-Illner-Runde nach Goslar zugeschaltet. Gabriel thronte im Studio über dem Studio, zwischen einem Blumengesteck und der Kerzenlampe sitzend, war er das alle überragende optische Zentrum der Sendung. Und weil es in ihr um Prognosen zum weiteren Verlauf des Ukrainekriegs ging, wuchs Gabriels beweglichem Standbild, sehr groß, sehr nah, sehr buddhamäßig, eine prophetische Qualität zu. Goslar als die erhöhte Warte zu Berlin, Kiew und Moskau, aber auch zu Peking und Washington.

          Christian Geyer-Hindemith
          Redakteur im Feuilleton.

          Mit der ins Auge stechenden Top-down-Prognosetechnik wurden von Gabriel die internationalen Karten gelegt. Je mehr er da oben als die personifizierte Contenance erschien, desto doller fürchtete man, es könne alles nur Fassade sein bis ins Blumengesteck hinein, und Gabriel könne jeden Moment aus der schon ziemlich fabriziert wirkenden Goslarer Gemütsrolle fallen.

          Kein Ausraster hinter der Fassade, nirgends

          Doch wahrte Gabriel die Form bis zum Ende. Unter der Kraft seiner Ruhe lag im psychoanalytischen Sinne ganz offenbar nichts drunter. Kein Ausraster nirgends, auch wenn ihm, Gabriel, gelegentlich in Petitessen widersprochen wurde, wie jener, dass es sich bei der Frühlingsoffensive genannten, demnächst zu erwartenden „schlimmsten Landschlacht seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Gabriel) nicht um eine einzelne Schlacht handeln werde, sondern um mehrere Schlachten. Geschenkt, so gab Gabriels Gebaren zu verstehen. Überhaupt die kommende Schlachtenschlacht, bei der die Ukraine in die Offensive, Russland in die Defensive gehe: Sie werde riesig, blutig und furchtbar werden, mit dreißig- bis vierzigtausend Menschen auf jeder Seite.

          Während der frühere Vizekanzler und jetzige Präsident der Atlantik-Brücke wie ein Wahrsager aus entrückter Sphäre die militärische Zukunft weissagte, wirkten die anderen Teilnehmer da unter ihm am Studiotisch sitzend wie im Jetzt zusammengepfercht. Man nennt das, was sich Gabriel bei Maybrit Illner zunutze machte, einen Sitzortvorteil. Er verstand es, sich abzuheben, und so kam es auf sein Nicken (Illner: „Sigmar Gabriel nickt“) nicht minder an als auf sein ausdrucksloses Herunterschauen auf anderer Leute Redebeiträge.

          Es geht darum, beim Gegner Verwirrung zu stiften

          Auffällig war, wie oft er in seinen Einlassungen Carlo Masala recht gab, dem einfach nur als Militärexperte ausgeschilderten Professor für Internationale Politik an der Bundeswehr-Universität München, wie demonstrativ Gabriel sich hinter Masala ein ums andere Mal zurücknahm. Immer wieder meinte Gabriel, Herr Masala würde dies, Herr Masala würde jenes viel besser erklären können, als er selbst es könne. So fand sich Masala von Gabriels Gnaden in den Rang eines militärischen Über-Ichs gehoben, der über alles Schlachtfeldrelevante Bescheid weiß und den man getrost auch allein in die Sendung hätte einladen können. Und in der Tat hatte Masala ja auch schon in 1001 Sendungen zum russischen Angriffskrieg gesprochen.

          Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Carlo Masala
          Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Carlo Masala : Bild: ZDF/Svea Pietschmann

          Besagtes Über-Ich wiederum berief sich auf eine britische Zeitung, in der gestanden habe, die Russen hätten in den vergangenen Monaten Zeit gehabt, um nun über die „bestausgebautesten Verteidigungsstellungen seit dem Ersten Weltkrieg“ zu verfügen. „Wir haben Informationen von ungefähr dreißigtausend Minen.“

          Gegenwärtig zeige sich, so Masala, dass die Russen ein Problem mit ihrer Grenzsicherung haben; offenkundig werde momentan die Schwäche der russischen Luftverteidigung und des russischen Geheimdienstes, der die ukrainischen Vorstöße nicht vorhersagen konnte. Was sich da derzeit abspiele, diene den Ukrainern in Vorbereitung des Schlachtfelds dazu, beim Gegner Verwirrung zu stiften. Ein Nebenkriegsschauplatz angesichts des Kommenden, wie Gabriel es zusammenfasste, Masala zunickend. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze erinnerte an den Erfolgsdruck, den die Vereinigten Staaten in Vorwahlzeiten mit der erwarteten ukrainischen Offensive verbinden.

          Neben dem Zentralgestirn Gabriel/Masala traten als eingespielte Antipoden die wie stets sprachlich souveräne Marie Agnes Strack-Zimmermann auf, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses („Waffengewalt als Voraussetzung für Verhandlungen“), sowie Amira Mohamed Ali, die eher assoziationspsychologisch argumentierende Fraktionschefin der Linken („Verhandlungen statt Waffengewalt“).

          Tatsächlich bekräftigte Strack-Zimmermann ihr Rollenverständnis, wonach sie „nur immer wieder daran erinnern“ könne, dass in diesem Krieg ein unrechtmäßiger Aggressor einem das Recht auf Verteidigung seiner Grenzen zustehendem Land gegenüberstehe, es also nicht um einen vergleichbaren Willen gehe, wenn beide Seiten den Krieg wollten.

          Frau Strack-Zimmermann, so wurde ihr aus Goslar bescheinigt, beschreibe die Verhältnisse vollkommen richtig. Zumal Waffengewalt und Diplomatie, so gab auch Masala zu verstehen, ja ein künstlich hergestellter Gegensatz seien, laufe doch im Hintergrund der aktuellen militärischen Auseinandersetzung die Diplomatie stets mit. An diesen gerade auch von Strack-Zimmermann schon etliche Male errichteten Pflock der Beschreibung kann man die Prognosen nur immer wieder anbinden, soll nicht in die frei schwebende Kugel geschaut werden.

          Weitere Themen

          24 Bände in 33 Jahren

          Spanische Literatur : 24 Bände in 33 Jahren

          Er ist der berühmteste Tagebuchschreiber Spaniens, besingt Madrid und auch sich selbst: Zum siebzigsten Geburtstag des Schriftstellers Andrés Trapiello.

          Topmeldungen

          Die AfD-Vorsitzenden Tino Chrupalla und Alice Weidel bei einem Bundesparteitag in Riesa

          Umfragehoch : Ein Scheinriese namens AfD

          Nicht einmal AfD-Politiker glauben, dass ihre Umfragewerte so hoch bleiben. Extreme Parteien profitieren von Zeiten großer Unzufriedenheit, aber nie dauerhaft.
          Die Ampelkoalition als einzige verlässliche Hüterin humanitärer Maßstäbe in Europa? Innenministerin Nancy Faeser vor Beratungen zum Asyl-Kompromiss

          Migrationspolitik : Deutscher Sonderweg

          Kein europäisches Land zieht so viele Migranten an wie Deutschland. Trotzdem hält die Regierung das Thema offenbar für weniger drängend als andere. Wieso?
          Ukrainische Soldaten ruhen sich in einem Graben an der Frontlinie in der Nähe von Kreminna aus.

          Ukraine-Liveblog : London: Ukraine verzeichnet Fortschritte an der Front

          Wasserstand in überfluteten Gebieten sinkt allmählich +++ Drohnenangriff mit drei Toten in Odessa +++ Putin: Ukrainische Gegenoffensive hat begonnen +++ Schwere Kämpfe in Saporischschja und Donezk +++ alle Entwicklungen im Liveblog

          Halbfinal-Pleite in Paris : Was ist bloß in Zverev gefahren?

          Alexander Zverev ist im Halbfinale der French Open chancenlos. Der Tennis-Profi verliert glatt in drei Sätzen gegen den Norweger Casper Ruud. Zverevs Verhalten nach der Niederlage erstaunt.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.